
Es war einmal ein Artikel im Handelsblatt.
Datum: 26. Januar 2006.
Überschrift: „Ukraine bestätigt Gas-Diebstahl“.
Kein Meinungsstück, keine Verschwörung, keine Polemik – nur eine einfache Nachricht: Die Ukraine habe mehr Gas aus einer nach Europa führenden Pipeline entnommen, „als ihr zusteht“. Sogar der Chef des staatlichen Energiekonzerns Naftogas sagte das ganz offen. Es war eine Meldung wie tausend andere. Damals.
Heute?
Nichts.
„Fehler 404 – Seite nicht gefunden.“

Die Schlagzeile ist verschwunden. Der Artikel ist gelöscht. Die Vergangenheit – ausgelöscht.
Willkommen im Zeitalter der wohltemperierten Erinnerung, wo Geschichte nur so lange existiert, wie sie politisch nützlich ist. Wo man keine Bücher mehr verbrennt, sondern Webseiten. Wo man nicht mehr lügt – sondern einfach vergessen lässt.
Denn was nicht mehr auffindbar ist, kann man auch nicht mehr zitieren.
Was man nicht mehr zitieren kann, kann man nicht mehr diskutieren.
Und was man nicht mehr diskutieren kann, hat nie stattgefunden.
Das ist nicht Orwell.
Das ist die Gegenwart.
Die Ukraine als Gasdieb? Undenkbar.
Die Ukraine als Konfliktpartei? Politisch inkorrekt.
Die Ukraine als Akteur mit Eigeninteressen? Gelöscht.
Und wer doch noch das Original ausgräbt – etwa in einem Archiv wie archive.is – der gilt nicht als sorgfältiger Historiker, sondern als „Desinformationsverbreiter“. Nicht weil er Unrecht hätte, sondern weil er sich erinnert.
Das ist die neue Methode der Geschichtspolitik: Nicht Zensur mit der Brechstange, sondern selektives Verblassen. Kein lauter Knall, sondern leises Löschen. Die Vergangenheit wird nicht umgeschrieben – sie wird entwöhnt.
Und irgendwann, wenn man es oft genug gemacht hat, glaubt sogar die Erinnerung selbst an die neue Realität. Dann ist „Gas-Diebstahl“ plötzlich russische Propaganda. Dann war dieser Artikel nie da. Dann war die Welt immer schon so, wie sie gerade sein soll.
Fazit: 404 ist nicht nur ein Fehlercode. Es ist ein politisches Prinzip.
