Ohne Breschnew wäre Westdeutschland 1985 pleite gewesen
von Dr. Christoph von Gamm, 5. September 2025
Es klingt absurd. Die Bundesrepublik, Exportweltmeister, Wunderknabe des Wirtschaftswunders, solider Mercedes unter den westlichen Demokratien – pleite? Und das schon 1985? Doch wer genauer hinschaut, erkennt: Ohne die Lebensadern aus dem Osten, aus der Entwicklungshilfe und ohne die stillschweigende Opferbereitschaft der eigenen Arbeitnehmer wäre die Bundesrepublik schon vor Helmut Kohls geistig-moralischer Wende an den Rand des Staatsbankrotts geraten.
1. Das „billige Wunder“: Öl und Gas aus Sibirien
Nach der Ölkrise 1973 schnellten die Preise für Rohöl auf bis zu 12 US-Dollar pro Barrel (vorher rund 3). 1979, nach der iranischen Revolution, sogar auf fast 40 Dollar. Für ein Land, das 95 % seiner Energie importieren musste, war das der absolute GAU.
Die Rettung kam aus Moskau: Bereits 1970 hatten BRD und UdSSR das „Röhren-Gas-Geschäft“ vereinbart. Westdeutsche Firmen lieferten Großröhren für Pipelines, im Gegenzug floss sibirisches Erdgas. Ende der 1970er deckte die Bundesrepublik bereits rund 20 % ihres Gasbedarfs aus der Sowjetunion – Tendenz steigend.
Ohne diese günstigen Lieferungen hätte die deutsche Industrie nicht konkurrenzfähig bleiben können. Statt Daimler, BASF und Bayer wäre Deutschland in den 80ern womöglich bei der OECD als „Problemfall“ neben Italien und Mexiko gelistet worden. In 1978 waren die USA (160 Mrd.), Frankreich (115 Mrd.) und die Niederlande (110 Mrd.) die wichtigsten Abnehmer deutscher Exporte, basierend auf Daten des Statistischen Bundesamtes, jedoch erfolgte dies unter anderem, weil diese dank russischer Energie und Ostblock Vorproduktion sehr wettbewerbsfähig waren und gleichzeitig die DM vergleichsweise schwach gehalten wurde.
Jetzt einmal die Überlegung: Was wäre geschehen, wenn sich der Gaspreis im Jahr 1980 vervierfacht hätte, wie wären die Auswirkungen auf Inflation, Export, Arbeitslosigkeit und Steueraufkommen gewesen? Eine Vervierfachung des Gaspreises 1980 hätte die BRD-Wirtschaft stark belastet, ähnlich den Ölkrisen 1973/79 (Quellen: Wikipedia, Federal Reserve History).
– Inflation: Steigerung um 5-10% durch höhere Produktionskosten (vergleichbar mit Ölpreisanstieg auf ~40 USD/Barrel).
– Export: Rückgang um 10-20%, da Industrie (z.B. Chemie, Auto) weniger wettbewerbsfähig; Exportanteil am BIP ~28%.
– Arbeitslosigkeit: Anstieg um 2-4 Punkte auf 5-7%, durch Rezession.
– Steueraufkommen: Rückgang um 5-15% aufgrund geringeren BIP-Wachstums.
Hypothetisch; reale Krisen zeigten zwar Resilienz durch Diversifikation, aber ein perfekter Sturm hätte wohl Deutschland nachhaltig geschädigt. Ob es dann zur “Wiedervereinigung” gekommen wäre, steht auf einem anderen Blatt. Denn die Prämisse der Wiedervereinigung mit der “DDR” war ja, daß die BRD stark genug wäre, die Kosten der Wiedervereinigung zu schultern.
2. Exportmärchen Ostblock
Die Bundesrepublik lebte vom Export – 1980 machten Exporte fast 28 % des BIP aus, einer der höchsten Werte weltweit. Und ein erheblicher Teil davon ging in den Osten.
Zwischen 1970 und 1980 verfünffachte sich der Handel zwischen BRD und UdSSR. 1980 erreichte er bereits ein Volumen von 10 Milliarden D-Mark pro Jahr. Maschinenbau, Chemie, Elektrotechnik: alles fand Abnehmer hinterm Eisernen Vorhang.
Das Problem: Die osteuropäischen Staaten waren notorisch klamm. 1983 rettete der Milliardenkredit von Franz Josef Strauß die DDR vor der Zahlungsunfähigkeit. Mit anderen Worten: Westdeutsche Banken finanzierten mit Staatsgarantie die Kunden, die wiederum westdeutsche Produkte abnahmen. Eine Art staatlich abgesicherter Export-Ponzi. Ohne den Kredit wären deutsche Unternehmen pleite gewesen, weil die Staatspleite der „DDR“ sofort auf diese Unternehmen sich niedergeschlagen hätte. Insbesondere die bayerische Industrie hätte das hart getroffen. Es erinnert frappant an die „Griechenland-Rettung“ 2009, die vor allem französische und deutsche Lebensversicherer gerettet hat.
3. Entwicklungshilfe – das verkappte Exportprogramm
Neben Breschnews Gas-Deals gab es noch eine zweite Lebensader für den westdeutschen Export: die Entwicklungshilfe. Auf den ersten Blick sah es so aus, als unterstütze die BRD großzügig Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika beim Aufbau ihrer Infrastruktur. In Wahrheit war es ein Geschäftsmodell:
- Kredit gegen Auftrag: Ein Entwicklungsland erhielt einen Kredit aus Bonn – und musste im Gegenzug deutsche Maschinen, Bauleistungen oder Elektronik kaufen.
- Überhöhte Preise: Weil die Aufträge politisch garantiert waren, wurden die Projekte oft zu Konditionen vergeben, die am freien Markt niemand akzeptiert hätte. Gleichzeitig waren in diesen überhöhten Preisen Bestechungsgelder für die lokale Prominenz – Politik & Wirtschaft schon eingepreist. So wurden reihenweise lokale Industrien und Regierungen korrumpiert, mit nachhaltigen Folgen.
- Die Profiteure: Nicht die Bevölkerung in Ghana oder Indonesien, sondern Unternehmen wie Hochtief, Philipp Holzmann, Siemens, Krupp oder Hoesch.
In den 1970er Jahren flossen jährlich zwischen 3 und 4 Milliarden D-Mark Entwicklungshilfe aus der BRD. Ein erheblicher Teil davon kehrte sofort zurück – in Form von Aufträgen für die deutsche Industrie.
4. Moderate Löhne als stille Stütze
Ein vierter Stützpfeiler in diesem Gefüge waren die relativ moderaten Löhne in Westdeutschland. Während US-Industriearbeiter Anfang der 1980er im Kaufkraftvergleich rund 50 % mehr verdienten, hielten sich die Bruttolöhne in Deutschland zurück.
Noch gravierender: Die hohe Abgabenquote sorgte dafür, dass die realen Nettolöhne in der ersten Hälfte der 1980er Jahre zeitweise sogar zurückgingen. Für die Arbeitnehmer bedeutete das weniger Kaufkraft, für die Unternehmen niedrigere Lohnstückkosten – und damit einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil am Weltmarkt.
5. Der Ostblock als diskretes Outsourcing-Paradies
Während Frankreich sein neokoloniales „Outsourcing“ in Afrika betrieb, nutzte Westdeutschland den Ostblock – billig, zuverlässig und politisch abgesichert. Was offiziell als „Wandel durch Handel“ etikettiert war, funktionierte in Wahrheit als stilles Auslagerungsmodell:
- DDR, CSSR, Ungarn, Rumänien: Schon vor 1989 ließen westdeutsche Firmen dort diskret produzieren. Arbeitskraft war billig, Gewerkschaften existierten de facto nicht, und die sozialistischen Regierungen waren froh um Devisen.
- IKEA: Möbel „Made in GDR“ – gefertigt unter teils menschenunwürdigen Bedingungen, auch durch politische Gefangene.
- VW: Autoteile aus Tschechien und Ungarn hielten die Kosten niedrig.
- Siemens: Grundmaterialien für Weißwaren und Elektroteile kamen aus dem Osten.
- Heimtextilien und Mode: Ganze Kollektionen wurden in Rumänien oder Ungarn gefertigt und im Westen als „preiswert“ vermarktet.
Besonders perfide: In der DDR war Alexander Schalck-Golodkowski der „Spezialminister“ für diese Deals. Er organisierte nicht nur den Tausch von Devisen gegen Waren, sondern auch den berüchtigten „Häftlingsfreikauf“. Politische Gefangene wurden gezielt für Exportproduktionen eingesetzt – und so wanderte Zwangsarbeit in Westprodukte, ohne dass der Verbraucher es merkte.
Dieses frühe „Ost-Outsourcing“ erklärt, warum die deutsche Industrie nach 1990 und besonders ab 2000 im Ostgeschäft so überlegen war: Man kannte die Märkte, die Ansprechpartner – und die Mechanik. Während andere erst China entdecken mussten, hatte Deutschland längst jahrzehntelange Erfahrung im „verlängerten sozialistischen Werkbank-Prinzip“.
6. Die fünf Säulen im Überblick
Stützpfeiler | Mechanismus | Zahlen / Größenordnung | Profiteure |
Billige Energie aus der UdSSR | „Röhren-Gas-Deal“ | ab 1980: ~20 % des Gasbedarfs über Sowjetlieferungen | Chemie-, Stahlindustrie, Gesamtindustrie |
Osthandel & Kredite | Exporte an DDR, UdSSR, Polen auf Kreditbasis | 1980: ~10 Mrd DM Handel; 1983: DDR-Kredit ~1 Mrd DM | Maschinenbau, Chemie, Banken |
Entwicklungshilfe-Exporte | Kredite an Entwicklungsländer mit Einkaufspflicht | jährlich ~3–4 Mrd DM Entwicklungshilfe | Siemens, Krupp, Hochtief, Philipp Holzmann, Hoesch |
Moderate Löhne & hohe Abgaben | Relativ niedrige Nettolöhne im Vergleich zu USA | reale Nettolöhne Anfang 80er zeitweise rückläufig; USA-Arbeiter ~50 % höhere Kaufkraft | Unternehmen, Staatshaushalt |
Ost-Outsourcing | Diskrete Produktionsverlagerung in den Ostblock | IKEA-Möbel, VW-Teile, Siemens-Komponenten, Heimtextilien | Deutsche Industrie, westliche Konsumgüterketten |
7. Die Pointe
Die Bonner Republik inszenierte sich stets als Musterknabe des Kapitalismus. In Wahrheit war sie ein halber Ostblockstaat – ökonomisch am Tropf Moskaus, politisch eingebettet in Washington, ergänzt durch „Entwicklungshilfe“ als verkappte Exportförderung, moderat gedrückte Löhne und eine sozialistische Werkbank jenseits der Mauer.
Ohne Breschnew, ohne Ostkredite, ohne Entwicklungshilfe, ohne stille Lohnzurückhaltung und ohne das Outsourcing in die „DDR“ wäre der „Exportweltmeister“ spätestens 1985 ein Schuldenweltmeister geworden.
Pleite, bevor es modisch war.
Die große Kunst der BRD war es, diese Themen dank medialer Lenkung, einem Akkord zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden und der immer “drohenden Gefahr durch den Kommunismus” – der auch tatsächlich reell war – und gleichzeitig mit Engelszungen gegenüber “unseren Freunden den Amerikanern” in einer Balance zu halten, die ihresgleichen hatte. Nun sind diverse Säulen eingebrochen: Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie, günstige Energie, Lohnzurückhaltung ist kaum mehr modisch weil die Abgabenlast inzwischen sehr drückend ist, Ost-Outsourcing ist inzwischen aufgrund des höheren Lebensstandards dort nicht mehr wirtschaftlich und Entwicklungshilfe gibt es nur noch für Gender und Radwege in Peru. Was ist also vom Erfolgsmodell BRD geblieben?