Es gibt ja die Forderung des „Recht auf Vergessenwerden“ seitens der EU Kommission. Wie passt sich das damit ein?
Hier liegt eine der spannendsten, aber auch heikelsten Schnittstellen zwischen Grundrechten, politischer Macht und öffentlicher Erinnerungskultur. Und sie erklärt, warum das sogenannte „Recht auf Vergessenwerden“ zwar ursprünglich sinnvoll gedacht war – heute aber zunehmend als Werkzeug des kollektiven Gedächtnisverlusts missbraucht werden kann.
Hier in drei Schritten, was dahinter steckt:
🧭 1. Ursprung: Schutz der Privatperson, nicht der öffentlichen Macht
Das „Recht auf Vergessenwerden“ wurde durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Google Spain 2014) sowie durch die DSGVO (Art. 17) etabliert. Es besagt im Kern:
👉 Privatpersonen dürfen verlangen, dass Suchmaschinen oder Webseiten personenbezogene Daten löschen, wenn diese veraltet, irrelevant oder unverhältnismäßig sind.
Die Idee war anfangs völlig legitim:
Schutz vor ewiger digitaler Prangerwirkung (z. B. Jugendsünden, alte Gerichtsverfahren, längst erledigte Schulden).
Schutz der informationellen Selbstbestimmung.
Wichtig: Dieses Recht war nie dafür gedacht, politische Aussagen, amtliches Handeln oder öffentliche Berichterstattung aus dem Gedächtnis zu löschen.
🪄 2. Pervertierte Anwendung: Vom Schutzrecht zur Löschpraxis
Genau hier beginnt aber das Problem:
In der Praxis wird der Artikel 17 DSGVO zunehmend auch von Politikern, Behörden und Unternehmen bemüht – nicht um sich vor Rufschädigung zu schützen, sondern um öffentlich dokumentierte Geschichte zu tilgen:
Politiker beantragen Löschungen von Artikeln oder Blogbeiträgen über ihre eigenen Skandale oder Falschaussagen.
Unternehmen lassen Berichte über frühere Fehlverhalten entfernen.
Behörden berufen sich auf Datenschutz, um Akten, Webseiten oder Pressemitteilungen zu „bereinigen“.
Das Ergebnis: Was einst eine Schutzmaßnahme für den Bürger war, wird zum Instrument der Macht, um unerwünschte Erinnerungen aus dem digitalen Raum verschwinden zu lassen.
🧨 3. Konflikt mit der Demokratie: Erinnerung ist ein Grundrecht
Hier prallen zwei fundamentale Prinzipien aufeinander:
🛡️ Recht auf Vergessen: Schutz individueller Daten und Privatsphäre.
🧠 Recht auf Erinnerung / Informationsfreiheit: Schutz der demokratischen Öffentlichkeit durch dokumentierte Geschichte.
In einer gesunden Demokratie muss Letzteres bei amtlichen Handlungen, öffentlichen Äußerungen und politisch relevanten Vorgängen Vorrang haben. Sonst entsteht ein gefährliches Paradox:
Bürger dürfen nicht vergessen werden, wenn sie Fehler gemacht haben.
Politiker und Institutionen hingegen können ihre Fehler aktiv löschen – und damit aus der historischen Verantwortung entlassen werden.
Das ist nicht mehr Datenschutz. Das ist Geschichtspolitik.
📉 Fazit: Vom Schutzschild zum Zensurwerkzeug
Das „Recht auf Vergessen“ ist im Kern ein gutes, bürgerrechtliches Instrument – aber es kippt, sobald es von Mächtigen genutzt wird. Dann verwandelt es sich in eine legale Variante des „Memory Hole“: nicht mit Feuer, sondern mit juristischen Formularen.
Oder, um es pointiert zu sagen:
Das Recht auf Vergessen schützt die Schwachen – und gefährdet die Demokratie, wenn die Starken es für sich beanspruchen.