Die strategische Evolution der NATO: Eine Analyse des Wandels von kollektiver Verteidigung zu Resilienz im Zeitalter der Informationskriegsführung

Die strategische Evolution der NATO: Eine Analyse des Wandels von kollektiver Verteidigung zu Resilienz im Zeitalter der Informationskriegsführung

 

von Dr. Christoph von Gamm, 5. September 2025

 

Von der Panzerabwehr zur Meme-Polizei

Die NATO hat eine erstaunliche Karriere hingelegt. Früher verteidigte sie uns gegen sowjetische Panzerarmeen. Heute verteidigt sie uns vor Telegram-Gruppen mit fünf Mitgliedern und einem schlecht gemachten Putin-Meme.

Der Trick ist simpel: Man erklärt den Diskurs selbst zum Schlachtfeld. Früher hieß es „Freiheit verteidigen“, heute heißt es „Cognitive Warfare“. Übersetzt: Dein Kopf ist jetzt Operationsgebiet, und NATO-Offiziere haben die Lizenz zum Gedankenschutz.

Das RAND-Papier von 2016 lieferte die Bibel dazu: Faktenchecks sind für Weicheier – man muss Kanäle dichtmachen. Statt „Debattenkultur“ gibt es „Deplatforming“, und statt Pluralismus den Digital Services Act – den EU-Maulkorb mit Brüsseler Qualitätsstempel.

Die Pandemie war dann der Crashkurs: Neben Virus auch gleich „Infodemie“. Praktisch, wenn man gleich zwei Feinde zum Abwehren hat – und das eine ist die eigene Bevölkerung.

Natürlich klingt das alles heroisch: „Resilienz der Gesellschaft“. In der Praxis bedeutet es: Der Diskurs darf frei sein, solange er vorab von NATO, EU und ein paar ausgelagerten Think-Tank-Influencern auf Narrativkompatibilität geprüft wurde.

So schützt der Westen seine Freiheit, indem er sie prophylaktisch einsperrt. Früher war Zensur eine Ausnahme – heute nennt man sie einfach Sicherheitsmaßnahme.

Und wenn man sich fragt, wovor wir eigentlich geschützt werden, lautet die Antwort: Vor uns selbst.

Diese Schrift zeigt ziemlich klar und deutlich, wie ein anfängliches Verteidigungsbündnis in eine Art von hyperallergischen kollektiven Wahn abgegleitet ist und wie dieser Wahn dafür sorgt, daß sich das eigene Verteidigungsbündnis nun in den Modus der Repression und Selbstzerstörung verwandelt. 

 

Dieses Dokument analysiert die strategische Entwicklung der NATO von einem reinen Verteidigungsbündnis zu einer Organisation, die sich auf Resilienz im Zeitalter der Informationskriegsführung konzentriert. Es untersucht die These, dass die NATO Zwang statt Diskurs anwendet, und beleuchtet die historischen, konzeptuellen und philosophischen Grundlagen dieser Entwicklung.

Die wichtigsten Punkte sind:

  • Post-Kalter-Kriegs-Ära (1989-2001): Das NATO-Strategische Konzept von 1999 erweiterte die Aufgaben des Bündnisses um Krisenmanagement. Der Kosovo-Krieg von 1999 wird als erste „Zwangsoperation“ außerhalb des traditionellen Bündnisgebiets genannt.
  • Der „Shift“ nach 9/11: Die Aktivierung des Artikels 5 nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 führte zur Fokussierung auf Terrorismusbekämpfung. Die US National Security Strategy von 2002 (Bush-Doktrin) legitimierte präventive Militäraktionen, was zu Spannungen innerhalb der NATO führte.
  • Rückkehr der Großmachtkonkurrenz und hybride Bedrohungen: Die Annexion der Krim 2014 und das NATO-Strategische Konzept von Madrid 2022 markierten eine Neuausrichtung auf die Bedrohung durch staatliche Akteure und hybride Kriegsführung (Desinformation, Cyberangriffe, wirtschaftlicher Zwang). Offizielle Dokumente definieren Zwang als Taktik der Gegner, während Kritiker die NATO-Maßnahmen selbst als Zwang interpretieren.
  • Kognitive Kriegsführung und Desinformation: Konzepte wie „Firehose of Falsehood“ und „Kognitive Kriegsführung“ (der menschliche Verstand als „ultimatives Schlachtfeld“) zeigen, dass die NATO den Informationsraum als neuen Kriegsschauplatz betrachtet. Institutionen wie das NATO Strategic Communications Centre of Excellence (StratCom COE) und legislative Maßnahmen wie der Digital Services Act (DSA) sind Reaktionen darauf. Kritiker sehen darin jedoch eine „Zensurindustrie“.
  • Theoretische und philosophische Grundlagen: Die Kritik an der NATO-Strategie speist sich aus Konzepten wie Carl Schmitts „Ausnahmezustand“ und Giorgio Agambens Argumentation, dass dieser zur „gewöhnlichen Technik der Regierung“ wird. Die „Kritische Geopolitik“ beleuchtet, wie Bedrohungen konstruiert werden, um Machtstrukturen zu rechtfertigen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Wandel der NATO ein evolutionärer Prozess ist, der sich als Reaktion auf sich wandelnde Bedrohungslandschaften vollzieht. Die NATO erweitert ihr Verständnis von Krieg, um Zwang in Form von Informationsmanipulation als existenzielle Bedrohung zu erkennen. Die Maßnahmen des Bündnisses werden als Verteidigung des demokratischen Diskurses dargestellt, während Kritiker sie als Repression wahrnehmen. Die Spannung zwischen dem Schutz demokratischer Institutionen und der Gefahr, dass Schutzmaßnahmen die Freiheit einschränken, bleibt eine zentrale Herausforderung, die durch die Entwicklung der KI in der Informationskriegsführung noch verstärkt wird.

 

1. Einleitung: Dechiffrierung der These über Zwang und Repression

Früher war die NATO einfach: ein Verteidigungsbündnis gegen den bösen Bären im Osten. Panzer, Raketen, klare Fronten. Heute aber kämpft das Bündnis gegen weit gefährlichere Gegner: Tweets, Memes und Telegram-Kanäle. Spätestens seit RAND 2016 das „Firehose of Falsehood“ erfand, wissen wir: Gegen Falschinformationen hilft nicht mehr Argumentieren, sondern nur noch Abstellen. Früher hieß das Zensur, heute nennt man es „Resilienz“. Klingt nach Yoga, meint aber: Der Bürger darf nur noch so viel Freiheit haben, wie er verkraftet, ohne auf dumme Ideen zu kommen.

Die EU machte begeistert mit: Erst die EUvsDisinfo-Datenbank, dann der Digital Services Act. Das Ganze ist wie TÜV für Meinungen: Nur wer das richtige Narrativ hat, bekommt noch Zulassung auf der Diskursautobahn. Die Pandemie war das perfekte Testgelände: „Infodemie“ nannte man es, und plötzlich durfte man alles löschen, was nicht ins Drehbuch passte. Praktisch, nicht? Wenn der Diskurs stört, erklärt man ihn kurzerhand zur Sicherheitsbedrohung.

Im NATO-Jargon heißt das jetzt „Cognitive Warfare“ – der menschliche Verstand als Schlachtfeld. Und weil die NATO bekanntlich Verteidigungsbündnis ist, verteidigt sie unsere Köpfe gleich mit. Indem sie hineingreift. Das Ergebnis: Der freie Westen schützt seine Freiheit, indem er sie so eng einschnürt, dass keiner mehr darüber stolpern kann. Oder, anders gesagt: Diskurs ist gesund – solange er vorher staatlich pasteurisiert wurde.

 

Die Annahme, die NATO sei zu der Überzeugung gelangt, ihre Agenda nur noch durch Zwang und Repressionen durchsetzen zu können, da ein demokratischer Diskurs als schädlich erachtet werde, ist ein zentraler und provokanter Standpunkt, der eine tiefgehende Analyse der sicherheitspolitischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte erfordert. Diese These spiegelt eine weitverbreitete kritische Perspektive wider, die das Handeln westlicher Bündnisse hinterfragt. Dieser Bericht wird die vorliegende Anfrage nicht als unumstößlichen Fakt behandeln, sondern sie als Ausgangspunkt für eine umfassende Untersuchung der strategischen Evolution der NATO nehmen. Das Ziel ist es, die historischen, konzeptuellen und philosophischen Grundlagen der strategischen Anpassungen des Bündnisses zu beleuchten.

 

Die zentrale Argumentation des vorliegenden Berichts ist, dass die Maßnahmen, die von der NATO und ihren Partnern ergriffen wurden und von Kritikern häufig als „Zwang“ oder „Repression“ interpretiert werden, primär als defensive und präventive Reaktionen auf neue, asymmetrische Bedrohungen zu verstehen sind. Diese Bedrohungen – darunter Desinformation, Cyberangriffe und hybride Kriegsführung – zielen nachweislich darauf ab, die Offenheit und den demokratischen Diskurs der westlichen Gesellschaften zu untergraben. Die strategische Neuausrichtung ist daher nicht als eine Abkehr vom demokratischen Diskurs, sondern als dessen gezielte Verteidigung konzipiert. Die Sprache des Diskurses ist dabei bezeichnend, da sie die narrative Rahmung von Diskursen widerspiegelt, die staatliche und zwischenstaatliche Bemühungen zur Bekämpfung von Desinformation als eine neue Form der staatlichen Machtausübung oder gar als „Zensurindustrie“ betrachten. Um die Fragestellung umfassend zu beantworten, müssen diese divergierenden Lesarten desselben Phänomens explizit gegenübergestellt und analysiert werden. Die nachfolgenden Abschnitte werden die entscheidenden Wendepunkte, die strategischen Dokumente und die philosophischen Strömungen, die diese Entwicklung geprägt haben, detailliert nachzeichnen.

2. Von RAND zu NATO/EU: 2017–2022

Der folgende Abschnitt beschreibt die Entwicklung und Institutionalisierung von Maßnahmen zur Informationskontrolle und „kognitiven Kriegsführung“ durch die NATO und EU von 2016 bis 2022.

Wichtige Punkte sind: Die RAND-Studie (2016): Legitimierte die Notwendigkeit, Kanäle zu kontrollieren und dass „Debunking“ nicht ausreicht, um Desinformation zu begegnen.

NATO StratCom COE (Riga) und EU East StratCom Task Force (2015-2017): Übersetzten die RAND-Ideen in Konzepte wie „Internet Trolling as a Tool of Hybrid Warfare“ und forderten, dass Plattformen keine neutralen Räume bleiben dürfen. Die EUvsDisinfo-Datenbank entstand.

Von Forschung zur Regulierung (2018-2019): Think Tanks wie Atlantic Council/DFRLab wurden Partner großer Social-Media-Plattformen. Die NATO erklärte „Information is a battlespace“. Die EU veröffentlichte einen Aktionsplan gegen Desinformation, der die Zusammenarbeit mit Plattformen zur Entfernung schädlicher Inhalte vorsah.

Pandemie als Katalysator (2020): Die „Infodemie“ wurde als Bedrohung eingestuft, was Forderungen nach direkter Zensur und Deplatforming salonfähig machte, weil ansonsten die 

Institutionalisierung im Recht (2021/2022): Der EU Digital Services Act (DSA) von 2022 verpflichtete Plattformen zur Bekämpfung von Desinformation und schuf eine gesetzliche Pflicht zur Narrativkontrolle. Das NATO Strategische Konzept von Madrid 2022 erkannte „Cognitive Warfare“ als neues Schlachtfeld an und fokussierte auf die „Resilienz von Gesellschaften“, was Informationslenkung impliziert.

Der Abschnitt kommt zu dem Schluss, dass dieser Prozess von der wissenschaftlichen Legitimation durch RAND über die militärisch-bürokratische Übersetzung durch NATO/EU-Zentren bis zur verbindlichen Regulierung und dem Zwang durch EU-Gesetze führte. Ab 2022 sei der „nudged discourse“ (gelenkter Diskurs durch Anreize) tot und es bleibe ein „managed discourse“ (verwalteter Diskurs) mit Repressionselementen.

1. 2016 – RAND & die Geburt des „Firehose“-Narrativs

  • RAND liefert die Vorlage: Debunking reicht nicht, Kanäle müssen kontrolliert werden.
    Die Studie wird breit rezipiert in NATO-nahen Think Tanks (Atlantic Council, Chatham House, DGAP).
  • Schon im gleichen Jahr entstehen innerhalb der NATO Arbeitsgruppen für strategische Kommunikation.

2. 2015/2017 – NATO StratCom COE (Riga)

  • Gegründet 2014 nach der Krim-Krise, aber ab 2015/2016 massiv mit RAND-Argumenten unterfüttert.
  • Publikationen 2015–2017:
    • „Internet Trolling as a Tool of Hybrid Warfare“ (2016)
    • „Digital Hydra“ (2017) – beschreibt Gegenmaßnahmen gegen Online-Propaganda. 
  • Kernaussage: Plattformen dürfen kein neutraler Raum bleiben.

👉 RAND-Idee übersetzt in NATO-Sprache: „Strategic Communication“ bedeutet aktive Manipulation statt Informationsaustausch.

3. 2017 – EU East StratCom Task Force & EU vs. Disinfo

  • Bereits 2015 gegründet, aber ab 2017 explizit mit dem RAND-Vokabular.
  • Aufbau der Datenbank EUvsDisinfo, die „falsche Narrative“ listet.
  • Kritik: häufig werden legitime Meinungen oder oppositionelle Narrative ebenfalls als „disinfo“ gebrandmarkt.

👉 Hier zeigt sich erstmals der Schritt vom Countering Foreign Influence → zur Regulierung innerer Debatte.

4. 2018–2019 – Von der Forschung zur Regulierung

  • Atlantic Council / DFRLab wird offizieller Partner von Facebook, Twitter, YouTube für „Elections Integrity“.
  • NATO spricht 2018 in Brüssel erstmals offen von „Information is a battlespace“.
  • EU veröffentlicht 2018 den Aktionsplan gegen Desinformation:
    • Aufbau von „Rapid Alert Systems“.
    • Zusammenarbeit mit Plattformen zur Entfernung „schädlicher Inhalte“.

👉 Der RAND-Gedanke (Debunking reicht nicht) wird nun gesetzlich in die Plattformregulierung übersetzt.

5. 2020 – Pandemie als Katalysator

  • Die EU bezeichnet „Infodemie“ (WHO) als gleichrangige Bedrohung wie das Virus selbst.
  • NATO StratCom COE: mehrere Studien über „Covid disinformation“.
  • Forderung nach direkter Zensur / Deplatforming wird salonfähig.
  • Plattformen kooperieren enger mit Regierungen (z. B. Löschungen bei Twitter & Facebook auf Regierungsanfrage).

6. 2021/2022 – Institutionalisierung im Recht

  • EU Digital Services Act (DSA, 2022):
    • Plattformen müssen „systemische Risiken“ bekämpfen, darunter Desinformation.
    • Schafft faktisch eine gesetzliche Pflicht zur Narrativkontrolle.
  • NATO 2022 Strategic Concept (Madrid):
    • „Cognitive Warfare“ wird als neues Schlachtfeld anerkannt.
    • Fokus auf „Resilience of societies“, was in der Praxis Informationslenkung bedeutet.
  • Parallel: Hybrid CoE (Helsinki) wird Think Tank für diese Konzepte: Narrative, Diskurskontrolle, „cognitive security“. 

🎯 Fazit: Die stille Verschiebung

  • RAND (2016): liefert die wissenschaftliche Legitimation. 
  • NATO StratCom COE & EU East StratCom (2015–2018): übersetzen die Theorie in militärisch-bürokratische Sprache. 
  • EU & nationale Gesetze (2018–2022): machen daraus verbindliche Regulierung & Zwang. 
  • Ab 2022 ist der „nudged discourse“ offiziell tot – was bleibt, ist „managed discourse“ mit Repressionselementen

Zeitleiste: Vom „nudged discourse“ zur Zwangslogik

Jahr Ereignis / Publikation Kernaussage / Bedeutung
1990 Joseph Nye: Soft Power Überzeugung durch Attraktivität statt Zwang.
1992 Francis Fukuyama: The End of History These vom Sieg des Liberalismus, Diskurs als Werkzeug.
1999 NATO Strategic Concept Fokus auf Kooperation, Einbindung, „humanitäre Intervention“.
2001 9/11 und „War on Terror“ Paradigmenwechsel: von Soft Power → Präventivschläge, Überwachung.
2002 US National Security Strategy Präventivkriege als legitim, Ausnahmezustand normalisiert.
2010 NATO Strategic Concept „Resilience“ tritt als neues Leitmotiv auf.
2014 Ukraine-Krise, Krim Beginn des Diskurses über „hybride Bedrohungen“ und Informationskrieg.
2015 NATO StratCom COE (Riga) etabliert Schwerpunkt auf „Countering Disinformation“.
2015 EU East StratCom Task Force gegründet Aufbau von EUvsDisinfo-Datenbank.
2016 RAND: „Firehose of Falsehood“ Wendepunkt: Debunking reicht nicht – Plattformkontrolle, Narrative steuern.
2017 NATO StratCom: Digital Hydra Forderung nach Regulierung von Social Media und Trollbekämpfung.
2018 EU Aktionsplan gegen Desinformation Rapid Alert Systems, Kooperation mit Plattformen, Löschpflichten.
2018 NATO: „Information is a battlespace“ Informationsraum offiziell als Kriegsgebiet definiert.
2019 Atlantic Council/DFRLab mit Facebook/Twitter Think Tank wird Partner für „Content Governance“.
2020 Pandemie: „Infodemie“-Narrativ Desinformation = Gesundheitsrisiko → harte Eingriffe gerechtfertigt.
2021 Hybrid CoE (Helsinki) Entwicklung des Konzepts „Cognitive Warfare“.
2022 EU Digital Services Act (DSA) Plattformen gesetzlich verpflichtet, Desinformation zu bekämpfen.
2022 NATO Strategic Concept (Madrid) „Cognitive Warfare“ und „Resilience of societies“ verankert.

 

3. Die Post-Kalter-Kriegs-Ära: Das Zeitalter des Konsenses und der „Humanitären Intervention“ (1989-2001)

Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges entstand ein strategisches Vakuum, das die vorherige Bipolarität ablöste. Der intellektuelle Hintergrund dieser Ära war der weit verbreitete Optimismus, der in Francis Fukuyamas 1992 veröffentlichtem Buch The End of History and the Last Man zusammengefasst wurde. Fukuyama argumentierte, dass die liberale Demokratie nach einem evolutionären Prozess die „finale Form der Regierung für alle Nationen“ darstelle und dass es von ihr aus keine weitere gesellschaftspolitische Progression geben könne. Dieser Gedanke prägte die sicherheitspolitische Debatte und spiegelte sich in einem Rückgang der totalen Kriege, interstaatlichen Konflikte und ethnischen Auseinandersetzungen wider.

Der erste signifikante Wandel in der NATO-Strategie trat mit dem NATO-Strategischen Konzept von 1999 ein. Dieses Dokument markiert eine entscheidende Abkehr vom ursprünglichen reinen Verteidigungsbündnis, das sich ausschließlich auf die kollektive Verteidigung gemäß Artikel 5 des Washingtoner Vertrags konzentrierte. Das Konzept von 1999 erweiterte die Kernaufgaben des Bündnisses, indem es Krisenmanagement und Partnerschaften explizit als Teil seines strategischen Denkens anerkannte. Diese „breitere Definition von Sicherheit“ bezog nun auch politische, wirtschaftliche, soziale und Umweltfaktoren mit ein und etablierte die Prävention und das Management von Krisen als integrale Aufgabe zur Aufrechterhaltung der Stabilität im euro-atlantischen Raum. Die Veröffentlichung dieses Konzepts kann somit als die erste „große Publikation“ verstanden werden, die einen grundlegenden Wandel in der Natur des Bündnisses dokumentiert.

Der Kosovo-Krieg von 1999 lieferte die erste große Fallstudie für diese neue strategische Ausrichtung. Die NATO-Intervention, Operation Allied Force, wurde im März 1999 gestartet, um die „humanitäre Katastrophe“ im Kosovo zu stoppen, nachdem diplomatische Bemühungen gescheitert waren. Diese Operation, die 78 Tage dauerte und ohne ein Mandat der Vereinten Nationen durchgeführt wurde, wird in den vorliegenden Dokumenten ausdrücklich als „coercive operation“ (Zwangsoperation) beschrieben, deren „primäres Ziel es war, Milosevic’s Rückzug aus dem Kosovo zu erzwingen“. Dies war der erste große Akt des Zwangs außerhalb des traditionellen Bündnisgebiets und stellte die erste Anwendung von Militärgewalt unter dem neuen strategischen Konzept von 1999 dar. Hierin liegt der Beginn des beobachteten „Shifts“ – die Verlegung des Fokus von einer reinen Verteidigungsrolle hin zu einer proaktiveren, krisenreaktiven Rolle, die auch zwangspolitische Mittel einsetzt, um bestimmte Ziele zu erreichen.

5. Der „Shift“ nach 9/11: Vom Krieg gegen den Terror zur Doktrin der Präemption

Als direkte Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 aktivierte die NATO zum ersten und einzigen Mal in ihrer Geschichte Artikel 5 des Washingtoner Vertrags, die kollektive Verteidigungsklausel. Alle 18 Mitgliedstaaten sicherten den Vereinigten Staaten ihre Unterstützung zu. Dieses Ereignis markierte den Beginn des „Krieges gegen den Terror“ als eine kollektive Herausforderung für das gesamte Bündnis. Die NATO passte ihre Strategie an, um sich auf Terrorismus zu konzentrieren, den sie als die „direkteste asymmetrische Bedrohung“ für die Sicherheit ihrer Bürger ansah.

Eine der wichtigsten „Publikationen“ in diesem Kontext war die im September 2002 veröffentlichte US National Security Strategy, die als Bush-Doktrin bekannt wurde. Dieses Dokument stellte einen historischen Wandel in der amerikanischen Außenpolitik dar, indem es eine neue, aggressive Herangehensweise an die nationale Sicherheit forderte. Die Doktrin legitimierte präventive Militäraktionen, um Bedrohungen zu beseitigen, bevor sie zuschlagen können. Sie betonte zudem die Bereitschaft der USA, „notfalls auch allein zu handeln“. Diese Doktrin hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die NATO-Mitglieder, da sie das Konzept der Selbstverteidigung drastisch erweiterte und die präventive Kriegsführung als legitimes Mittel etablierte.

Die Bush-Doktrin, die den „Krieg gegen den Terror“ ideologisch untermauerte, führte jedoch zu Spannungen innerhalb des westlichen Bündnisses und untergrub die „Soft Power“ der USA. Joseph Nye definierte „Soft Power“ als die Fähigkeit, andere durch Anziehung und Überzeugung zu beeinflussen, im Gegensatz zu Zwang oder Bezahlung. Kritiker argumentierten, dass der Fokus der USA auf „Hard Power“ und präventive Kriege die Glaubwürdigkeit und damit die Soft Power des Westens erheblich reduzierte. Obwohl die NATO Artikel 5 als Zeichen der Solidarität aktivierte , zeigte sich im „Krieg gegen den Terror“ eine interne strategische Spaltung. Das Bündnis spielte laut Kritikern „allenfalls eine unterstützende Rolle“ in den US-Bemühungen zur Terrorismusbekämpfung, da die USA „lose Koalitionen der Willigen“ bilateraler Kooperation den langsameren, kollektiven Prozessen der NATO vorzogen. Die Spannungen zwischen dem Wunsch nach flexibler, schneller „Hard Power“ und dem auf Konsens basierenden NATO-Mechanismus zeigen, dass der wahrgenommene „Shift“ keine einheitliche NATO-Doktrin war, sondern eine komplexe Reaktion, die von internen Spannungen geprägt war.

5. Die Rückkehr der Großmachtkonkurrenz und die Entstehung hybrider Bedrohungen

Der Wendepunkt im strategischen Denken der NATO ereignete sich im Jahr 2014. Die Annexion der Krim durch Russland und die destabilisierenden Aktionen in der Ostukraine dominierten den NATO-Gipfel in Wales. Dieses Ereignis markierte einen tiefgreifenden „Shift“ weg von der globalen Terrorismusbekämpfung hin zur direkten Konfrontation mit einem staatlichen Akteur, der eine Kombination aus konventionellen und nicht-konventionellen Mitteln einsetzte. Die Allianz reagierte mit einem „Readiness Action Plan“, der die kollektive Verteidigung stärken sollte.

Die strategische Neuausrichtung fand ihre vollständige Formulierung im NATO-Strategischen Konzept von Madrid 2022. Dieses Dokument ist eine der wichtigsten „Publikationen“ zur Beantwortung des bobachteten Shifts. Es benennt die Russische Föderation als die „bedeutendste und direkteste Bedrohung für die Sicherheit der Alliierten“. Erstmals in der Geschichte des Bündnisses spricht das Konzept auch die „Herausforderungen“ an, die von der Volksrepublik China ausgehen. Der wahre Kern dieses Konzepts liegt jedoch in seiner Definition neuer Bedrohungen. Das Dokument stellt fest, dass „autoritäre Akteure unsere Interessen, Werte und demokratische Lebensweise herausfordern“, indem sie „die Offenheit, Vernetzung und Digitalisierung unserer Nationen auszunutzen versuchen“. Als Beispiele für diese Taktiken werden „Desinformationskampagnen“, die „Instrumentalisierung von Migration“, die „Manipulation von Energieversorgung“ und der „Einsatz wirtschaftlichen Zwangs“ genannt.

Hier lässt sich eine entscheidende Umkehrung der Begriffe feststellen. Was Beobachter als „Zwang“ der NATO wahrnehmen, wird in den offiziellen Dokumenten als eine Taktik der Gegner definiert, gegen die sich das Bündnis verteidigen muss. Die NATO-Dokumente von 2014 und 2022 beschreiben die „hybriden Taktiken“ ihrer Gegner als eine Bedrohung für demokratische Institutionen, die über konventionelle militärische Angriffe hinausgeht. Dies schafft eine neue Kategorie von Bedrohung und rechtfertigt die Notwendigkeit einer Verteidigungsstrategie, die sich nicht mehr nur auf das militärische Schlachtfeld beschränkt, sondern auch den Informationsraum umfasst. 

 

Dieser Paradigmenwechsel ist das Herzstück des „Shifts“, der wahrgenommen wird: Die NATO erweitert ihr Verständnis von Krieg, um Zwang in Form von Informationsmanipulation als eine existenzielle Bedrohung zu erkennen, die eine Reaktion erfordert.

 

Ereignis/Publikation Auslösendes Moment Identifizierte Bedrohung Kernstrategie Verbindung zur Wahrnehmung
NATO-Strategisches Konzept 1999 Ende Kalter Krieg, regionale Instabilität (Kosovo) Regionaler Konflikt, Humanitäre Katastrophen außerhalb des Bündnisgebiets Krisenmanagement, Partnerschaften, Friedensoperationen Erste große Publikation, die Zwang („coercive operation“) als Mittel zur Konfliktlösung außerhalb der reinen Verteidigung legitimiert.
US National Security Strategy 2002 (Bush-Doktrin) Terroranschläge vom 11. September 2001 Globaler Terrorismus, Staaten mit Massenvernichtungswaffen Präventivschlag („preemptive action“), unilaterales Handeln Erweitert das Konzept der Selbstverteidigung drastisch und prägt eine Ära des proaktiven militärischen Handelns, die die Allianzen vor strategische Herausforderungen stellt.
NATO-Gipfel Wales 2014 Russische Annexion der Krim, Konflikt in der Ukraine Hybride Kriegsführung (konventionell und nicht-konventionell) Rückkehr zur kollektiven Verteidigung, Vorbereitung auf hybride Bedrohungen Das Bündnis erkennt eine neue Form des Zwangs durch einen staatlichen Akteur an, was eine Neuorientierung der eigenen Verteidigung erfordert.
NATO-Strategisches Konzept Madrid 2022 Eskalation des Konflikts in der Ukraine, Aufstieg Chinas Russland als „direkteste Bedrohung“, Autoritäre Akteure, Desinformation, wirtschaftlicher Zwang Resilienz, Abschreckung und Verteidigung gegen hybride Taktiken Offizielle Dokumentation, die Zwang und Repression als Werkzeuge der Gegner definiert und die eigene Reaktion als Verteidigung des demokratischen Systems darstellt.

 

6. Der sechste Kriegsschauplatz: Kognitive Kriegsführung und Desinformation

Die zunehmende Bedeutung des Informationsraums hat zu einer detaillierten Analyse neuer Formen der Konfliktführung geführt. Eine der wichtigsten „Publikationen“ in diesem Bereich ist das 2016 von der RAND Corporation geprägte Konzept der „Firehose of Falsehood“ („Feuerwehrschlauch der Unwahrheit“). Dieses Konzept beschreibt die russische Propagandatechnik, die eine große Menge widersprüchlicher und unwahrer Informationen über viele Kanäle, einschließlich sozialer Medien, verbreitet. Ziel ist es, das Publikum zu verwirren und die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Wahrheit und Lüge zu zerstören. Das hohe Volumen und die hohe Frequenz der Verbreitung sollen konkurrierende Nachrichtenfluten übertönen und die Akzeptanz von Falschinformationen durch Wiederholung erhöhen, ein Phänomen, das als „illusory truth effect“ bekannt ist.

 

Als Reaktion auf diese Bedrohung haben die NATO und die EU konkrete Institutionen und legislative Rahmenwerke geschaffen. Das NATO Strategic Communications Centre of Excellence (StratCom COE) und das European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats (Hybrid CoE) sind zentrale Akteure in der Analyse und Abwehr von Informationsbedrohungen. Das Hybrid CoE definiert hybride Bedrohungen als „koordinierte und synchronisierte Aktionen, die gezielt die systemischen Schwachstellen demokratischer Staaten und Institutionen angreifen“. Die Aufgabe dieser Zentren ist es, „die Wirksamkeit von Informationsbedrohungen zu verhindern“ und die „Resilienz“ der Gesellschaften zu stärken.

 

Die legislative Antwort der EU ist der Aktionsplan gegen Desinformation von 2018 und der 2022 in Kraft getretene Digital Services Act (DSA). Der Aktionsplan beschreibt Maßnahmen zur besseren Erkennung von Desinformation, zur koordinierten Reaktion und zur Zusammenarbeit mit Online-Plattformen. Es wird ausdrücklich klargestellt, dass Satire, Parodien oder unbeabsichtigte Fehler nicht als Desinformation gelten und dass die Meinungsfreiheit nicht geopfert wird, um Desinformation zu bekämpfen. Der DSA zielt darauf ab, „systemische Risiken“ wie Desinformation zu mindern, indem er große Online-Plattformen zur Rechenschaft zieht und sie zu mehr Transparenz bei ihren Empfehlungssystemen zwingt.

 

Der aktuellste Diskurs, der sich in der NATO-Strategie manifestiert, ist das Konzept der „Kognitiven Kriegsführung“. Dieses Konzept, das auch als „sechster Kriegsschauplatz“ bezeichnet wird, definiert den menschlichen Verstand als das „ultimative Schlachtfeld“. Es beschreibt den Einsatz von Cyber-Werkzeugen, um „die Kognition menschlicher Ziele zu verändern“ und „Entscheidungsfindung zu beeinflussen“. Das Ziel dieser Strategie ist es, die „kognitive Resilienz“ zu stärken und die Fähigkeit zu entwickeln, sich im kognitiven Bereich zu behaupten. Diese Entwicklung verdeutlicht, dass die NATO die offene, demokratische Gesellschaft selbst als eine Schwachstelle identifiziert, die vor äußeren Einflüssen geschützt werden muss. Dieser Paradigmenwechsel, der die Verteidigung in den Bereich des Diskurses und der Kognition verlegt, ist der direkte kausale Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen Bedrohung und den präventiven Maßnahmen, die von Kritikern als „Repression“ wahrgenommen werden können. Hier besteht ein fundamentaler ideologischer Konflikt: Während offizielle Dokumente von EU und NATO Desinformation eng definieren, um die freie Meinungsäußerung zu schützen , pauschalieren Kritiker wie Mike Benz diese Bemühungen als staatlich geförderte „Zensurindustrie“, die das „goldene Zeitalter des Internets“ beendet hat.

7. Die theoretischen und philosophischen Grundlagen des Wandels

Die Kritik an den strategischen Entwicklungen der NATO und der EU hat eine tiefgreifende philosophische und geopolitische Tradition. Sie speist sich unter anderem aus den Arbeiten von Carl Schmitt und Giorgio Agamben zum „Ausnahmezustand“. Schmitts Diktum „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ ist die intellektuelle Grundlage dieser Kritik. Agamben greift dieses Konzept in der Gegenwart wieder auf und argumentiert, dass der „Ausnahmezustand“, der die Rechtsstaatlichkeit suspendiert, zu einer „gewöhnlichen Technik der Regierung“ geworden ist. Aus dieser Perspektive können die Reaktionen auf hybride Bedrohungen als eine weitere Situation verstanden werden, in der die Regierung die normalen Regeln des Rechtsstaates suspendiert, um auf eine angebliche Krise zu reagieren, was letztlich dazu führt, dass die „Ausnahme zur Regel wird“.

 

Eine weitere intellektuelle Strömung, die die Bedenken der Beobachtung intellektuell untermauert, ist die „Kritische Geopolitik“. Diese Denkschule analysiert, wie politische Akteure „geografische Annahmen und Bezeichnungen“ nutzen, um Bedrohungen zu konstruieren und neue Machtstrukturen zu rechtfertigen. Aus dieser Perspektive sind die NATO-Dokumente nicht nur passive Reaktionen auf eine veränderte Welt, sondern aktive Instrumente der diskursiven Macht, die eine Realität schaffen, in der die Welt in „Freunde“ und „Feinde“ unterteilt wird. 

 

Die Werke von Denkern wie Agamben bieten somit eine alternative, düstere Lesart des sicherheitspolitischen Wandels, die die Besorgnis der Beobachtung artikuliert und begründet, warum Maßnahmen zur Verteidigung der Demokratie selbst als potenzieller Angriff auf demokratische Normen verstanden werden können.

 

Der Kern der Debatte liegt somit nicht in den Handlungen selbst, sondern in der Interpretation und Definition der Begriffe. Die folgende Tabelle verdeutlicht diese grundlegende Diskrepanz, die den Konflikt in den Narrativen ausmacht.

 

Begriff im kritischen Narrativ Offizielle Definition (NATO/EU) Kritische Definition
Zwang/Repression Wird als eine Taktik von „autoritären Akteuren“ definiert, die „wirtschaftlichen Zwang“ und „Desinformationskampagnen“ einsetzen, um die Offenheit westlicher Demokratien auszunutzen und ihre eigenen Ziele zu erreichen. Wird als staatliche oder zwischenstaatliche Machtausübung interpretiert, die demokratische Prozesse oder die Freiheit der Meinungsäußerung unter dem Deckmantel der Sicherheit außer Kraft setzt. Verknüpfung mit dem Konzept des Ausnahmezustands, der zur neuen Norm wird.
Desinformation Nachweislich falsche oder irreführende Informationen, die mit dem Ziel des wirtschaftlichen Gewinns oder der vorsätzlichen Täuschung verbreitet werden, um „öffentlichen Schaden“ anzurichten. Satire und Parodien sind ausdrücklich ausgenommen, um die Meinungsfreiheit zu schützen. Wird als ein weit gefasster Begriff dargestellt, der verwendet wird, um abweichende Meinungen zu zensieren oder Narrative zu kontrollieren. Kritiker sehen in den Maßnahmen der Regierung zur Desinformationsbekämpfung die Etablierung einer „Zensurindustrie“.
Verteidigung des Diskurses Die Verteidigung des demokratischen Diskurses durch die Stärkung der „Resilienz“ der Gesellschaft gegen „hybride Bedrohungen“ und „kognitive Kriegsführung“, die den menschlichen Verstand als „ultimatives Schlachtfeld“ betrachtet. Wird als eine Ausweitung des staatlichen Einflusses in den Bereich der öffentlichen Meinung und der persönlichen Kognition interpretiert. Dieser Ansatz wird als Versuch angesehen, „den Kampf um Wissen, Raum und Macht neu zu denken“, um neue Formen der Machtausübung zu rechtfertigen.

 

7. Synthese: Eine Neubewertung der Beobachterhypothese

Die Analyse der strategischen Evolution der NATO zeigt, dass die Wahrnehmung eines „Shifts“ zu Zwang und Repression eine komplexe Realität widerspiegelt, graduell stattgefunden hat: Der „Shift“ ist kein einzelnes Ereignis, sondern ein evolutionärer Prozess, der 1999 mit dem Kosovo-Krieg begann und sich über die Reaktionen auf die Anschläge vom 11. September und die Annexion der Krim im Jahr 2014 bis in die Gegenwart fortsetzt. Jede dieser Phasen war eine Reaktion auf eine sich wandelnde Bedrohungslandschaft und führte zu einer stetigen Erweiterung des strategischen Auftrags des Bündnisses.

Die „ersten großen Publikationen“ sind keine einzelnen Schriften, die Zwang befürworten, sondern eine Kette von strategischen Dokumenten, akademischen Studien und legislativen Maßnahmen, die kollektiv eine sich wandelnde Bedrohungslandschaft und die Notwendigkeit neuer, oft unkonventioneller Antworten beschreiben. Die NATO-Strategischen Konzepte definieren Bedrohungen wie Zwang und hybride Taktiken explizit als Handlungen von „autoritären Akteuren“. Indem sie diese Feinde so benennen, konstruieren sie eine Realität, in der die eigenen Maßnahmen als „defensiv“ und auf den Aufbau von „Resilienz“ ausgerichtet dargestellt werden können. Die Publikationen sind somit Teil des Kampfes um das Narrativ selbst.

 

Die Wahrnehmung eines „Shifts“ zu Zwang und Repression kann man zwar im Kern als eine Fehlinterpretation der Maßnahmen, die die NATO und ihre Partner zur Verteidigung des demokratischen Diskurses ergreifen sehen, oder als eine Beobachtung, daß die NATO sich komplett geistig in eine Art von selbstgewählten Gefängnis begeben hat. Der wahre Wandel liegt in der strategischen Erkenntnis, dass dieser Diskurs selbst zum Schlachtfeld geworden ist und nicht-traditionelle Schutzmechanismen benötigt. Es ist nicht so, dass der demokratische Diskurs als schädlich erachtet wird, sondern die Fähigkeit von externen Akteuren, ihn zu untergraben und zu manipulieren. Die Maßnahmen zielen darauf ab, diese Fähigkeit zu neutralisieren und eliminieren damit aber nahezu vollständig die Rechtfertigung eines „Verteidigungsbündnisses“ eines “freien Westens”. 

 

8. Schlussfolgerung und Ausblick

Die vorliegende Analyse unterstreicht die Komplexität der sicherheitspolitischen Herausforderungen im 21. Jahrhundert. Die strategische Evolution der NATO ist eine Reaktion auf die Erkenntnis, dass die Offenheit und die demokratischen Prozesse westlicher Gesellschaften zu systemischen Schwachstellen werden können, die von gegnerischen Akteuren ausgenutzt werden. Die Spannung zwischen der Notwendigkeit, demokratische Institutionen vor externer Manipulation zu schützen, und der Gefahr, dass diese Schutzmaßnahmen selbst als Einschränkung der Freiheit missbraucht werden könnten, bleibt eine zentrale Herausforderung.

 

Mit der rasanten Entwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI) in der Informationskriegsführung, die bereits in den Debatten des Riga StratCom Dialogue diskutiert wird , steht der Diskurs vor einer neuen Stufe der Komplexität. Die Fähigkeit von KI, Desinformationskampagnen zu automatisieren und die öffentliche Meinung zu manipulieren, wird die Grenzen zwischen legitimen Schutzmaßnahmen und potenzieller staatlicher Kontrolle weiter verwischen. Die fortlaufende Debatte über die Rolle von strategischer Kommunikation und die Abwehr von hybriden Bedrohungen wird daher auch in Zukunft eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage erfordern, wie die grundlegenden demokratischen Werte in einer zunehmend vernetzten und umkämpften Welt verteidigt werden können.

 

Quellenangaben

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  6. Topic: Strategic Concepts – NATO, https://www.nato.int/cps/en/natohq/topics_56626.htm 
  7. Topic: Kosovo Air Campaign – Operation Allied Force (March – June 1999) – NATO, https://www.nato.int/cps/en/natohq/topics_49602.htm 
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  31. Books | Critical Geopolitics, https://criticalgeopolitics.com/books/
    33. Riga StratCom Dialogue, https://rigastratcomdialogue.org/

christophvongamm

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Dr. Christoph von Gamm ist ein Unternehmer, Investor und Business Angel, der sich an der Schnittstelle von Wirtschaft, Kultur und Technologie engagiert. Er ist CEO und Managing Partner von Cybertrue Capital Partners, einer Firma, die sich mit Investitionen und Deals beschäftigt. Zudem ist er CEO von vonGammCom Global, wo er Beratungs- und Executive-Search-Dienstleistungen im Bereich IT-Outsourcing, große Verträge, Vertriebsführung und umfassende Transformationen anbietet. Seine berufliche Laufbahn umfasst über 20 Jahre globale und pan-europäische Erfahrung, darunter Führungspositionen bei Capgemini Suisse S.A. (2008–2012) und IBM Corporation (1995–2008). Er hat sich als strategisch denkender Führungskraft mit Erfolg bei der Performanceverbesserung großer Organisationen, der Gründung neuer Funktionen und der Pionierarbeit bei globalen Outsourcing-Initiativen etabliert. Sein Schwerpunkt liegt auf der Wertsteigerung durch digitale Transformation und der Nutzung dieser Veränderungen für seine Kunden. Er verfügt über akademische Qualifikationen, darunter einen Doktortitel (Dr. phil.) in interkultureller Wirtschaftswissenschaft von der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), einen Diplom-Ingenieur (Dipl.-Ing.) in Elektrotechnik und Informationstechnik von der TU München sowie ein MBA von der Open University Business School, einen Master of Sales Management von der Portsmouth University, sowie Absolvent des Client Executive Programs der INSEAD Fontainebleau.
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