Warum der „Problempony Blues“ direkt in der Nachfolge der Gebrüder Grimm steht und Identitätsstiftung schafft

Es wirkt auf den ersten Blick paradox, einen düsteren Polizeisatire-Roman aus dem München der Gegenwart mit den klassischen Märchensammlungen der Brüder Grimm zu vergleichen. Zu unterschiedlich scheinen Tonfall, Schauplatz und Erzählabsicht. Doch wer genauer hinsieht, erkennt: Der „Problempony Blues“ ist ein modernes Märchen – im besten, tiefsten Sinn. Und zugleich eine notwendige identitätsstiftende Erzählung für eine Gesellschaft, die sich im Dschungel der Widersprüche verirrt hat.

1. Der Mythos des Alltags

Märchen waren nie bloß Kindergeschichten. Sie dienten immer als kollektive Reflexionsräume über Ordnung und Chaos, über Gut und Böse, über gesellschaftliche Tabus und heimliche Wünsche. Genau das tut auch der „Problempony Blues“. Die Welt der Münchner Ermittlerin Karin Münchinger ist nichts anderes als ein entzauberter Märchenwald: Wursttheken, Behördenflure, Rotweingläser und Twitter-Timelines werden hier zu magischen Orten, an denen sich archaische Konflikte neu entladen.

Wie im klassischen Märchen gilt auch hier: Das Böse lauert oft hinter der Fassade des Gewohnten.
Der Metzger in Trudering, die queere Senioren-WG, das Bilderberg-Treffen – sie alle sind moderne Versionen jener Hütten im Wald, in denen bei den Grimms Hexen hausten oder Wölfe den Weg kreuzten. Der Unterschied: Heute tragen sie Polohemd, Parteibuch oder Krawatte.

2. Die Heldin als archetypische Figur

Karin Münchinger selbst steht in einer langen Traditionslinie der Märchenhelden. Sie ist weder klassische „Prinzessin“ noch strahlende Retterin, sondern eine gebrochene, dennoch unbeirrte Suchende – vergleichbar mit Figuren wie dem tapferen Schneiderlein oder der klugen Bauerntochter.
Ihre „Quests“ führen sie nicht durch Zauberwälder, sondern durch Aktenberge und digitale Abgründe. Doch wie im Märchen muss sie stets drei Dinge überwinden:

  1. institutionelle Willkür,
  2. gesellschaftliche Heuchelei,
  3. ihre eigenen Zweifel.

Ihr Beiname „Problempony“ ist dabei kein bloßer Spitzname, sondern ein modernes Wappenzeichen – ein ironischer Schutzmantel, der sie gleichzeitig ausgrenzt und unbesiegbar macht. Sie reitet durch den moralisch verminten Alltag wie einst das „Pferdchen“ durch Grimmsche Geschichten, das stets eine tiefere Weisheit verkörpert.

3. Moralisches Lernen durch Satire

Wie die Grimms nutzt auch der „Problempony Blues“ Überzeichnung und drastische Bilder, um moralische Kernfragen zu stellen:

  • Was ist gerecht?
  • Wer bestimmt Recht und Unrecht?
  • Wo verlaufen die Grenzen zwischen Täter und Opfer? 

Die Szene um den Metzgerpreis „8,88 €“ zeigt das exemplarisch: Hier kippt eine banale Alltagshandlung in ein groteskes Tribunal. Das Märchenhafte entsteht gerade aus der Zuspitzung – und der Leser spürt, ähnlich wie beim Grimmschen „Hans im Glück“ oder bei „Rumpelstilzchen“: Die Wahrheit liegt oft nicht in der Handlung, sondern in der absurden Überhöhung.

4. Identitätsstiftung im zersplitterten Zeitalter

Moderne Gesellschaften leiden nicht an zu wenig Informationen, sondern an zu wenig Sinn. Der „Problempony Blues“ stiftet auf paradoxe Weise Identität, weil er zeigt:
Wir alle sind Gefangene eines Systems, das gleichzeitig absurd, komisch und brutal ist.
Die Identifikation mit Karin – dieser rauchenden, Wein trinkenden, fluchenden Ermittlerin – ermöglicht es den Lesern, ihre eigene Hilflosigkeit gegenüber Behörden, Medien und Moralpaniken zu reflektieren. Das kollektive Kopfschütteln über den „Staat“ wird hier zum kathartischen Akt.

Die Gebrüder Grimm sammelten Märchen, um die „Seele des Volkes“ zu bewahren. Der „Problempony Blues“ dokumentiert die Seele einer überbürokratisierten, durchdigitalisierten, saturierten Gesellschaft – mit Zigarettenrauch, kaltem Filterkaffee und einem tiefen Seufzer.

5. Fazit:

Wer den „Problempony Blues“ liest, liest ein Märchenbuch für Erwachsene.
Nicht, um zu fliehen, sondern um besser zu verstehen.
Nicht, um zu träumen, sondern um zu erkennen:
Die Hexe ist längst verbeamtet. Der Wolf hat eine Compliance-Abteilung.
Und die kluge Bauerntochter raucht Winston und trinkt Weißwein auf dem Balkon.

 

Hier geht es zum Roman Problempony-Blues https://www.von-gamm.com/problempony