Das Widerstandsrecht des Artikels 20 Absatz 4 GG: Dogmatik, historische Genese und seine Deutung in der aktuellen Lage Deutschlands
Art. 20 Abs. 4 GG ist die verfassungsrechtliche Notfall-Axt hinter Glas: Nur einschlagen, wenn das Haus wirklich brennt – nicht, wenn der Rauchmelder wegen angebranntem Toast piept. Dogmatisch heißt das: Ultima Ratio, strenge Subsidiarität, nichts für selektiven Gesetzesfrust; solange Gerichte arbeiten und Demos möglich sind, bleibt die Axt an der Wand.
Historisch gesehen: 1949 wollte man das Ding gar nicht erst aufhängen (zu viel Landfriedensbruch-Vibes). 1968 kam es dann als Beruhigungstablette zu den Notstandsgesetzen – eine „Versicherungspolice“ für den Bürger gegen den Staat auf Abwegen.
In der Praxis schläft die Axt Dornröschenschlaf: Kaum Rechtsprechung, Verfassungsbeschwerden scheitern am „Hast du schon alles andere probiert?“-Prinzip. Funktionierende Institutionen = kein Widerstandsfall. Punkt.
Aktuell wird das Werkzeug gern von Querdenkern & Reichsbürgern als Deko-Schwert missverstanden: Man ruft „Widerstand!“, obwohl man gleichzeitig behauptet, das Haus sei gar kein echtes Haus. Logikfehler inklusive. Der Text sortiert das in ein Ampelsystem: Grün (Normalbetrieb), Gelb (stark nervt’s, aber Rechtsschutz existiert) und Rot (echter Staatsstreich, Abhilfe tot) – wir sind stand heute juristisch bei Grün, auch wenn Twitter manchmal Gelb blinkt.
Fazit in einem Meme: Wer Art. 20 IV ruft, während das BVerfG noch durchklingelt, bestellt die Feuerwehr, weil der Popcorn-Duft „brandgefährlich“ wirkt. Die wehrhafte Demokratie funktioniert – und genau deshalb bleibt die Notfall-Axt, wo sie hingehört: hinter Glas.
Zusammenfassung
Dogmatische Grundlagen: Das Widerstandsrecht ist streng an das Subsidiaritätsprinzip gebunden: Es greift nur, wenn alle anderen Rechtswege und politischen Mechanismen zur Bewahrung der Verfassung versagt haben. Dies bedeutet, dass in einem funktionierenden Rechtsstaat mit unabhängiger Justiz und der Möglichkeit friedlichen Protests die Voraussetzungen für die Aktivierung des Widerstandsrechts nicht erfüllt sind. Es ist klar vom zivilen Ungehorsam abzugrenzen, der sich gegen einzelne Gesetze oder Maßnahmen richtet, während das Widerstandsrecht einen Angriff auf die gesamte Verfassungsordnung voraussetzt und im Normalfall strafbare Handlungen legitimieren kann.
Historische Genese: Im Parlamentarischen Rat 1949 wurde ein Widerstandsrecht zunächst abgelehnt, um Missverständnisse als „Aufforderung zum Landfriedensbruch“ zu vermeiden und stattdessen auf eine „wehrhafte Demokratie“ mit starken Institutionen zu setzen. Erst 1968 wurde Artikel 20 Absatz 4 im Zuge der Notstandsgesetze als Kompromiss und Gegengewicht zu den erweiterten staatlichen Befugnissen eingeführt. Er sollte als „Versicherungspolice“ für die Bürger dienen, falls der Staat selbst die Verfassung bedrohen sollte.
Bedeutung in der Praxis: Das Widerstandsrecht spielt in der deutschen Rechtspraxis kaum eine Rolle und wurde vom Bundesverfassungsgericht bisher so gut wie nicht angewendet. Dies ist ein Beleg für die Stärke und Funktionsfähigkeit der deutschen Demokratie. Verfassungsbeschwerden, die sich auf dieses Recht berufen, sind aufgrund der strengen Subsidiaritätsklausel in der Regel unzulässig, da der Rechtsweg (z.B. über das Bundesverfassungsgericht) als Abhilfemöglichkeit besteht.
Aktuelle Deutung: In der aktuellen politischen Debatte wird das Widerstandsrecht häufig missbräuchlich von extremistischen Gruppen wie „Querdenkern“ oder „Reichsbürgern“ angeführt. Der Artikel macht jedoch unmissverständlich klar, dass die dogmatischen Voraussetzungen (drohender Staatsstreich, Totalversagen der staatlichen Abwehrmechanismen, keine anderen Abhilfemöglichkeiten) in der gegenwärtigen Lage Deutschlands nicht erfüllt sind. Solche Berufungen stellen eine fundamentale Fehlinterpretation der Norm dar.
„Ampelsystem“ zur Veranschaulichung:
- Grün (Normalzustand): Das System ist voll funktionsfähig; Widerstand ist nicht anwendbar.
- Gelb (Warnsignale): Demokratische und rechtsstaatliche Mechanismen sind beeinträchtigt, aber noch nicht vollständig beseitigt; Widerstand ist noch nicht anwendbar.
- Rot (Absoluter Ausnahmefall): Es findet ein Staatsstreich statt, die verfassungsmäßige Ordnung soll beseitigt werden, und alle staatlichen Abwehrmechanismen sowie Abhilfemöglichkeiten sind vollständig versagt; nur hier wäre das Widerstandsrecht anwendbar.
Die Nichtanwendung des Widerstandsrechts in Deutschland ist ein Zeugnis für die Robustheit seiner demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen.
Einleitung: Die konstituierende Ausnahme im Grundgesetz
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist als Fundament eines stabilen, friedlichen und funktionsfähigen Gemeinwesens konzipiert. Es regelt den „Alltag“ der demokratischen Staatsordnung und ihrer Institutionen. Innerhalb dieses Gefüges nimmt Artikel 20 Absatz 4 eine singuläre und nahezu paradoxe Stellung ein. Er kodifiziert ein Widerstandsrecht für den absoluten Ausnahmefall, für eine Situation, in der die rechtliche und politische Normalität bereits zusammengebrochen ist. Das Grundgesetz stellt sich somit als wehrhafte Demokratie auf, die nicht nur institutionelle, sondern auch eine letzte, quasi-revolutionäre Abwehrlinie in die Hände ihrer Bürger legt. Das Widerstandsrecht ist ein „Notrecht“ , das erst dann wirksam wird, wenn alle anderen Rechtswege und politischen Mechanismen zur Bewahrung der Verfassung versagt haben.
Die faktische Bedeutungslosigkeit dieses Artikels in der juristischen Praxis ist daher kein Indiz für seine Schwäche, sondern vielmehr ein Beleg für die Stärke und Resilienz der deutschen demokratischen Ordnung. Die Diskussion um seine Anwendbarkeit in der heutigen Zeit ist ein Spiegelbild gesellschaftlicher Spannungen, doch die juristische Auslegung des Artikels macht unmissverständlich klar, dass die Bedingungen für seine Aktivierung in der gegenwärtigen Lage nicht erfüllt sind. Dieser Bericht beleuchtet die dogmatischen Grundlagen des Widerstandsrechts, seine historische Entstehung und seine aktuelle Deutung, um eine umfassende Einschätzung der heutigen Situation in Deutschland zu geben.
I. Dogmatische Fundierung des Widerstandsrechts
Die juristische Interpretation des Widerstandsrechts nach Artikel 20 Absatz 4 GG ist von strengen Voraussetzungen und einem eng umrissenen Anwendungsbereich geprägt.
1.1 Kerngehalt und Schutzgut: Die wehrhafte Demokratie als Zielobjekt des Widerstands
Der Wortlaut des Artikels ist präzise: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Das in diesem Artikel geschützte Gut ist die in Artikel 20 Absätze 1 bis 3 definierte Verfassungsordnung. Diese umfasst die fundamentalen Prinzipien der parlamentarischen Demokratie, des Sozialstaats, des Bundesstaats und des Rechtsstaats. Der Widerstandsartikel richtet sich somit gegen jegliche Bestrebungen, diese gesamte Ordnung zu beseitigen, unabhängig davon, ob der Angriff von staatlichen Organen oder von privaten Akteuren ausgeht.
Der Widerstandsfall ist nach der staatsrechtlichen Lehrmeinung, wie sie der Staatsrechtler Josef Isensee formulierte, als ein „Staatsstreich“ zu verstehen. Er tritt nicht bei einzelnen Rechtsverstößen oder Fehlentscheidungen von Staatsorganen ein. So reicht beispielsweise eine unrechtmäßige Auflösung des Bundestages, Unkorrektheiten bei einer Wahl oder eine singuläre Grundrechtsverletzung durch die Regierung nicht aus, um das Widerstandsrecht zu legitimieren. Es muss ein Angriff auf die Verfassung als Ganzes vorliegen, der die grundgesetzliche Ordnung von Grund auf bedroht. Das Widerstandsrecht dient als „Abwehrrecht des Bürgers“ , das auf die „konservierende Bewahrung oder Wiederherstellung der Rechtsordnung“ abzielt. Es ist somit eine „Nothilfe der Bürger“ , die sich zur Wehr setzen, falls die Staatsgewalt selbst versagt, die verfassungsmäßige Ordnung aufrechtzuerhalten.
1.2 Das Prinzip der Subsidiarität: Die „Ultima Ratio“ als Schranke des Widerstandsrechts
Die entscheidende Einschränkung des Widerstandsrechts findet sich in seinem letzten Halbsatz: „…, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Dieses Prinzip der Subsidiarität macht den Artikel zu einem Recht der „Ultima Ratio“, das nur im äußersten Notfall angewendet werden darf. Die dogmatische Auslegung verlangt, dass alle „Mittel der Normallage“ versagt haben müssen, bevor Bürger zu den „heiklen Mitteln des Rechtsbruchs und der Gewaltsamkeit“ greifen dürfen.
Die Existenz eines funktionierenden Rechtsstaates, der über eine unabhängige Justiz verfügt, entzieht dem Widerstandsrecht in der Normalität die Grundlage. Der Rechtsweg muss ausgeschöpft sein, bevor man sich auf diese Norm berufen kann. Das Bundesverfassungsgericht als oberste Hüterin der Verfassung stellt einen zentralen Abhilfeweg dar, der bei verfassungsrechtlichen Streitigkeiten angerufen werden kann. Zudem müssen auch alle politischen und zivilgesellschaftlichen Möglichkeiten versagt haben. Solange Konflikte „in zivilen Formen“ ausgetragen werden können und „friedlicher Protest noch Gehör“ finden kann, ist der Widerstand nicht legitimiert.
Die strengen Bedingungen für die Anwendung des Widerstandsrechts schaffen einen dogmatischen Kreislauf. Da der Artikel erst greift, wenn der Rechtsstaat und seine Institutionen – einschließlich der Gerichte und der politischen Prozesse – bereits zusammengebrochen sind, ist die Existenz dieser Institutionen selbst ein Beweis dafür, dass die Voraussetzungen für den Widerstand nicht vorliegen. Der Verfassungsstaat hat zahlreiche Mechanismen, um sich gegen verfassungswidrige Bestrebungen zu wehren, etwa durch Polizei, Nachrichtendienste und die Justiz. Die Möglichkeit, Verfassungsbeschwerden einzulegen, entkräftet die Bedingung der „fehlenden Abhilfe“ und demonstriert die Funktionsfähigkeit des Systems. Das in Artikel 20 Absatz 4 kodifizierte Recht ist somit ein „Rechtsinstitut“ , das das ursprüngliche, naturrechtliche Widerstandsrecht kanalisiert und es zu einem Teil der Ordnung macht, die es schützen soll.
1.3 Abgrenzung zu verwandten Handlungsformen: Widerstandsrecht vs. Ziviler Ungehorsam
Es ist von entscheidender Bedeutung, das Widerstandsrecht von anderen Handlungsformen wie dem zivilen Ungehorsam abzugrenzen. Während der zivile Ungehorsam sich gegen einzelne Handlungen oder Gesetze richtet, die als „rechtswidrig, unmoralisch oder gefährlich“ empfunden werden – wie etwa Verkehrsprojekte oder die Abschiebung eines Ausländers – zielt das Widerstandsrecht auf die Abwehr einer Gefahr für die Verfassung als Ganzes. Ziviler Ungehorsam ist ein symbolischer Akt, der sich bewusst über bestehendes Recht hinwegsetzt, aber die rechtlichen Konsequenzen (z. B. eine Strafe) in Kauf nimmt, um auf Missstände hinzuweisen. Im Gegensatz dazu ist das Widerstandsrecht eine Rechtfertigungsnorm für Handlungen, die im Normalfall strafbar wären, und legitimiert einen Rechtsbruch im Namen der Wiederherstellung der Verfassungsordnung. Das Grundgesetz deckt keinen „selektiven Rechtsgehorsam“ , und die bloße Nichtbefolgung von Gesetzen, die man für verfassungswidrig hält, kann nicht mit Artikel 20 Absatz 4 gerechtfertigt werden.
II. Historische Kontextualisierung und verfassungsrechtliche Genese
Die Aufnahme des Widerstandsrechts in das Grundgesetz war das Ergebnis einer langwierigen politischen Entwicklung und tiefgreifender historischer Lehren.
2.1 Die Ablehnung im Parlamentarischen Rat 1949: Lehren aus Weimar
Als der Parlamentarische Rat 1949 das Grundgesetz erarbeitete, lehnte er eine entsprechende Widerstandsrechtsnorm mit großer Mehrheit ab. Das Hauptargument, insbesondere vom Politiker Carlo Schmid, war die Besorgnis, eine solche Regelung könne als „Aufforderung zum Landfriedensbruch“ missverstanden werden. Die Verfassungsgeber zogen eine direkte Lehre aus dem Scheitern der Weimarer Republik, deren Verfassung keine ausreichenden institutionellen Vorkehrungen gegen ihre Feinde enthielt. Die Väter des Grundgesetzes setzten stattdessen auf eine „wehrhafte Demokratie“, die sich durch starke Institutionen wie das Bundesverfassungsgericht und das konstruktive Misstrauensvotum gegen Verfassungsfeinde verteidigen kann. Diese Mechanismen sollten einen autoritären Umsturz verhindern, ohne die Bürger zu zivilem Ungehorsam oder gar Gewalt aufzurufen.
2.2 Die Einführung durch die Notstandsgesetze von 1968: Ein politischer Kompromiss
Die Einführung des Artikels 20 Absatz 4 GG erfolgte erst 1968 im Zuge der Verabschiedung der umstrittenen Notstandsgesetze. Diese Gesetze waren dazu gedacht, die Handlungsfähigkeit des Staates in Krisen- und Katastrophenfällen zu gewährleisten. Sie erlaubten es dem Staat, in Ausnahmesituationen vorübergehend auch Grundrechte einzuschränken. Dies weckte die Sorge vor einem möglichen Missbrauch der Staatsgewalt, und die Angst der Verfassungsgeber verschob sich von einer Zersetzung von unten hin zu einem potenziellen Übergriff von oben.
Als politischer Kompromiss und als Gegengewicht zu den neuen Notstandsbefugnissen des Staates wurde das Widerstandsrecht nachträglich in das Grundgesetz aufgenommen. Während die Notstandsverfassung die Handlungsfähigkeit des Staates stärken sollte, ermächtigte Artikel 20 Absatz 4 ausdrücklich die Bürger. Der Artikel diente als eine Art „Versicherungspolice“ für die Bürger, falls der Staat selbst zu einem Unterdrücker werden sollte. Das Recht auf Widerstand wurde als das „letzte Aufgebot zum Schutz der Verfassung“ in die Verfassung eingefügt, um das Überleben der grundgesetzlichen Ordnung zu sichern, falls die staatlichen Abwehrmechanismen versagen sollten.
III. Jurisprudenz und Praxis: Ein „schlafender“ Artikel
Trotz seiner symbolischen und historischen Bedeutung spielt das Widerstandsrecht in der deutschen Rechtspraxis kaum eine Rolle.
3.1 Die Bedeutungslosigkeit in der Rechtsprechung
Seit seiner Einführung gab es so gut wie keine maßgebliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Artikel 20 Absatz 4 GG. In der rechtswissenschaftlichen Diskussion steht der Artikel nicht im Zentrum und wird gelegentlich als „angestaubt“ oder im „Dornröschenschlaf“ befindlich beschrieben.
Diese juristische Stille ist jedoch kein Ausdruck der Schwäche oder Unwirksamkeit der Norm, sondern vielmehr das Gegenteil: Sie ist der überzeugendste Beweis für die Funktionsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland. Die Abwesenheit von Widerstandsfällen signalisiert, dass das demokratische System und seine Institutionen – allen politischen Spannungen zum Trotz – erfolgreich dabei sind, ihre Aufgabe zu erfüllen und einen „Staatsstreich“ von oben oder unten zu verhindern. Die wehrhafte Demokratie in Deutschland hat die Weimarer Lehren verinnerlicht und Mechanismen geschaffen, die einen umfassenden Zusammenbruch der Rechtsordnung unwahrscheinlich machen.
3.2 Verfassungsbeschwerden und ihre Unzulässigkeit
Verfassungsbeschwerden, die sich auf das Widerstandsrecht berufen, sind in der Praxis in der Regel unzulässig oder erfolglos. Der Grund dafür liegt in der strikten Subsidiaritätsklausel des Artikels. Solange die Gerichte als Abhilfeweg bestehen, kann die Bedingung, dass „andere Abhilfe nicht möglich ist“, schlichtweg nicht erfüllt werden. Das Recht zum Widerstand ist nicht als allgemeines Recht zur Nichtbefolgung von Gesetzen gedacht, die eine Person für verfassungswidrig hält. Solange der Rechtsweg offensteht, ist der Weg der Verfassungsbeschwerde der einzig legitime Weg, um eine Klärung herbeizuführen.
IV. Die Deutung in der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Debatte
Die heutige Deutung des Widerstandsrechts wird maßgeblich durch seinen missbräuchlichen Gebrauch in bestimmten politischen Kontexten geprägt.
4.1 Die missbräuchliche Verwendung des Widerstandsrechts durch extremistische Gruppen
In der jüngsten Vergangenheit haben Gruppierungen wie die „Querdenker“-Bewegung und „Reichsbürger“ wiederholt versucht, sich auf Artikel 20 Absatz 4 GG zu berufen, um ihre Proteste oder ihre Ablehnung der Bundesrepublik Deutschland zu legitimieren. Diese Anrufung beruht jedoch auf einer fundamentalen Missinterpretation der Norm. Die dogmatischen Voraussetzungen des Artikels, allen voran das Vorliegen eines drohenden Staatsstreichs und der Ausschluss aller anderen Abhilfemöglichkeiten, sind in der heutigen Zeit offensichtlich nicht erfüllt. Die Verfassungsorgane der Bundesrepublik sind intakt, der demokratische Prozess funktioniert und Gerichte arbeiten unabhängig.
Die Berufung auf das Widerstandsrecht durch die „Reichsbürger“-Szene ist besonders absurd, da diese Gruppen die Existenz der Bundesrepublik Deutschland als Staat leugnen und sie als eine „Firma“ ansehen. Es besteht ein logischer Widerspruch: Man kann sich nicht auf eine Norm aus einer Verfassung berufen, die man selbst als illegitim betrachtet. Derartige Argumentationen sind weniger ein juristisches Plädoyer als vielmehr ein politisches Signal. Sie dienen dem Versuch, einem politischen Protest eine juristische Legitimität zu verleihen, die in Wirklichkeit nicht existiert, und offenbaren eine tiefe Vertrauenskrise in die staatlichen Institutionen.
4.2 Schlussfolgerung zur aktuellen Lage, September 2025
Die aktuelle Lage in Deutschland ist nicht als eine Situation zu deuten, die die Aktivierung des Widerstandsrechts legitimieren würde. Die Existenz von funktionierenden Abwehrmechanismen innerhalb des demokratischen Systems – einschließlich der unabhängigen Rechtsprechung, der Gewaltenteilung und der Möglichkeit des friedlichen Protests – entkräftet die zentralen Voraussetzungen des Artikels. Der Missbrauch der Norm durch radikale und populistische Gruppierungen ist kein Zeichen der Schwäche der Verfassung, sondern vielmehr ein Indikator für eine wachsende gesellschaftliche Spaltung und ein Misstrauen gegenüber dem demokratischen Staat. Die eigentliche Herausforderung besteht nicht darin, das Widerstandsrecht anzuwenden, sondern die Resilienz der wehrhaften Demokratie zu stärken, um solche Delegitimierungsversuche abzuwehren und das Vertrauen in die Institutionen zu erneuern. Die Tatsache, dass das Widerstandsrecht als ultima ratio weiterhin im Grundgesetz steht und nicht angewendet werden muss, ist das beste Zeugnis für die Gesundheit des deutschen Rechtsstaats.
4.3 Die Kriterien für das Widerstandsrecht: Ein „Ampelsystem“
Die Frage, wann Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes („Widerstandsrecht“) tatsächlich anwendbar wird, ist eine der am strengsten definierten im deutschen Verfassungsrecht. Die Norm dient nicht als Legitimation für zivilen Ungehorsam oder Protest gegen einzelne Gesetze, sondern ist ein „Notrecht“ für den absoluten Ausnahmefall, wenn die demokratische Grundordnung in ihrer Gesamtheit bedroht ist. Um die Kriterien und Ereignisse, die das Widerstandsrecht aktivieren könnten, zu veranschaulichen, lässt sich eine Einteilung nach dem Prinzip eines Ampelsystems vornehmen:
🍀 Grün: Der Normalzustand – Das Widerstandsrecht ist nicht anwendbar
In dieser Phase ist die Bundesrepublik Deutschland ein voll funktionsfähiger Rechtsstaat. Die Voraussetzungen für das Widerstandsrecht sind hier nicht gegeben, da „andere Abhilfe“ möglich ist.
- Funktionierende staatliche Organe: Bundestag, Bundesrat, Regierung und Gerichte arbeiten gemäß den Vorschriften des Grundgesetzes.
- Unabhängige Justiz: Der Rechtsweg, insbesondere die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts, steht Bürgern offen, um Grundrechtsverletzungen oder verfassungswidrige Handlungen anzufechten.
- Möglichkeiten der politischen Abhilfe: Friedlicher Protest kann Gehör finden, und die demokratische Meinungsbildung kann über Wahlen, Parteien und öffentliche Debatten stattfinden.
Kleinere Rechtsverstöße, Regierungsfehlentscheidungen oder einzelne Grundrechtsverletzungen, die nicht das System als Ganzes beseitigen wollen, fallen in diese Kategorie und legitimieren keinen Widerstand.
🟡 Gelb: Die Warnsignale – Das System steht unter Druck, aber die rote Linie ist noch nicht überschritten
Diese Phase beschreibt eine Situation, in der demokratische Prozesse und rechtsstaatliche Mechanismen schwerwiegend beeinträchtigt, aber noch nicht vollständig beseitigt sind. Das Widerstandsrecht ist auch hier noch nicht anwendbar, da die Bedingung „wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“ noch nicht erfüllt ist.
- Systematische Missachtung der Judikative: Gerichtsentscheidungen, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts, werden von Exekutive oder Legislative in größerem Umfang ignoriert oder bewusst unterlaufen. Die Existenz des Bundesverfassungsgerichts gilt als wichtiger Schutzmechanismus.
- Schwere, systematische Grundrechtsverletzungen: Der Staat begeht schwerste und systematische Menschenrechtsverletzungen, die jedoch noch über förmliche Rechtsmittel angegangen werden können, auch wenn deren Erfolgsaussichten gering sind.
- Einschränkung demokratischer Institutionen: Das Parlament wird an der ordnungsgemäßen Arbeit gehindert oder die Gewaltenteilung wird stark verzerrt, ohne jedoch vollständig aufgehoben zu werden. Ein solcher Zustand wäre ein Vorbote eines Staatsstreichs, der im Rot-Stadium eintreten würde.
Auch in dieser Phase bleibt das Widerstandsrecht eine „schlafende“ Norm. Die Verteidigung der Demokratie findet weiterhin im Rahmen des Rechtsstaates statt.
🚨 Rot: Der absolute Ausnahmefall – Die Voraussetzungen für Widerstand liegen vor
Das Widerstandsrecht entfaltet seine Schlagkraft erst in diesem Stadium. Es handelt sich um die dogmatische „Ultima Ratio“.
- Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung: Es findet ein „Staatsstreich“ statt, bei dem die in Artikel 20 Absatz 1 bis 3 GG verankerte Verfassungsordnung als Ganzes beseitigt werden soll.
- Totalversagen der staatlichen Abwehrmechanismen: Die staatliche Gewalt hat die verfassungsmäßige Ordnung aufgegeben und ist nicht mehr in der Lage oder willens, diese zu schützen. Polizei, Justiz und Nachrichtendienste sind entweder handlungsunfähig, auf die Seite des Angreifers gewechselt oder aktiv an der Zerstörung der Demokratie beteiligt.
- Keine Abhilfe mehr möglich: Alle rechtlichen und politischen Abhilfemöglichkeiten sind ausgeschöpft, verschlossen oder nicht mehr existent. Es gibt keine funktionierenden Gerichte mehr, die von den Bürgern angerufen werden könnten, um die Verfassung zu verteidigen.
In diesem extremen Fall würde das Widerstandsrecht einen Rechtsbruch zur Wiederherstellung des Rechts legitimieren. Der Widerstand dient dann als „Nothilfe der Bürger“ zur Abwehr von Angriffen auf die grundgesetzliche Ordnung. Die Tatsache, dass Deutschland seit 1968 diesen „roten“ Zustand nie erreicht hat, ist das überzeugendste Zeichen für die Robustheit seiner demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen.
Anhang: Übersichtstabellen
Kriterium | Widerstandsrecht (Art. 20 Abs. 4 GG) | Ziviler Ungehorsam |
---|---|---|
Rechtsgrundlage | Das Grundgesetz (Art. 20 Abs. 4 GG) | Außergesetzlich, moralisch oder philosophisch |
Schutzgut | Die Verfassung als Ganzes | Einzelne Gesetze oder Maßnahmen |
Ziel | Wiederherstellung der gesamten Verfassungsordnung | Änderung spezifischer Gesetze oder Politik |
Adressat | Alle Deutschen | Bürger |
Mittel | Auch Gewalt und Rechtsbruch | Friedliche Mittel, Protest |
Verhältnis zum Rechtsbruch | Legitimierter Rechtsbruch zur Wiederherstellung des Rechts | Bewusster, symbolischer Rechtsbruch |
Rechtliche Konsequenz | Rechtfertigungsnorm, die Straffreiheit ermöglicht | Strafbarkeit bleibt bestehen |
Zeitleiste zur Genese des Art. 20 Abs. 4 GG |
---|
1919 – Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung, die kein Widerstandsrecht enthält. |
1933 – Zerstörung der Demokratie und des Rechtsstaats durch die Nationalsozialisten. |
1949 – Ablehnung der Einführung eines Widerstandsrechts in das Grundgesetz durch den Parlamentarischen Rat aus Angst vor „Aufforderung zum Landfriedensbruch“. |
1968 – Verabschiedung der Notstandsgesetze. Zur Besänftigung von Ängsten vor staatlicher Übermacht wird das Widerstandsrecht als Ausgleich eingefügt. |
Heute – Diskussion über die missbräuchliche Anrufung des Artikels durch extremistische Gruppen. |
Quellenangaben
- Das Recht auf Widerstand zum Schutz der … – Deutscher Bundestag, https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2013/47878421_kw50_grundgesetz_20-214054 2. Rechtsstaat und ziviler Ungehorsam – Juristische Fakultät – Universität Würzburg, https://www.jura.uni-wuerzburg.de/fileadmin/02160031/2023/NJW_2023_05_Forum_Schwarz.pdf
- grundrechte-faq.de, https://grundrechte-faq.de/widerstandsrecht-art-20-abs-4-gg/#:~:text=einen%20diktatorischen%20Staat.-,Art.,wenn%20andere%20Wege%20versperrt%20sind.
- www.bundestag.de, https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2013/47878421_kw50_grundgesetz_20-214054#:~:text=Adressat%20sind%20die%20B%C3%BCrger,andere%20Abhilfe%20nicht%20m%C3%B6glich%20ist.
- Artikel 20 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland …, https://de.wikipedia.org/wiki/Artikel_20_des_Grundgesetzes_f%C3%BCr_die_Bundesrepublik_Deutschland
- Widerstandsrecht – Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Widerstandsrecht
- § 17 Rechtsstaat und Widerstand, https://www.ius.uzh.ch/dam/jcr:64611b9f-bb95-4646-9c35-14d0d97adf80/Kley_Widerstand%20im%20Rechtsstaat_VerfR%20der%20CH_2001ger%20(1).pdf
- Widerstandsrecht (Art. 20 Abs. 4 GG) – Kanzlei Abamatus, https://anwalt-verfassungsbeschwerde.de/grundrechte/widerstandsrecht-art-20-abs-4-gg/
- Widerstandsrecht | bpb.de, https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/lexikon-in-einfacher-sprache/250134/widerstandsrecht/
- Der zivile Ungehorsam als Rechtfertigungsgrund – Juracademy, https://www.juracademy.de/recht-interessant/article/zivile-ungehorsam-rechtfertigungsgrund
- 1849 – 1919 – 1949. Der lange Weg zu einer stabilen demokratischen Ordnung – ZMSBw, https://zms.bundeswehr.de/de/publikationen-ueberblick/zmg-2024-2-75-jahre-grundgesetz-5773948
- Karsten Nowrot Jenseits eines abwehrrechtlichen Ausnahmecharakters – wiso.uni-hamburg.de, https://www.wiso.uni-hamburg.de/fachbereich-sozoek/professuren/nowrot/fiwa/archiv/publikationsreihe/heft-5-nowrot-widerstandsrecht.pdf
- Reichsbürger-Ideologie – Hintergründe | LpB BW, https://www.lpb-bw.de/reichsbuerger