Der Doppelstaat – Asymmetrische Gewalt und der stille Verlust staatlicher Legitimität

Asymmetrische Gewalt und der stille Verlust staatlicher Legitimität

Christoph von Gamm, 18. November 2025

In modernen Demokratien entscheidet sich die Stabilität eines Staates weniger an seiner militärischen Stärke als an der Glaubwürdigkeit seines Gewaltmonopols. Dieses Gewaltmonopol ist kein technisches Detail, sondern ein psychologischer Vertrag zwischen Bürger und Staat: Wir verzichten auf Selbstjustiz, weil der Staat uns neutral, vorhersehbar und unideologisch schützt. Wenn dieser Vertrag brüchig wird, verliert der Staat nicht nur die Autorität – er verliert seine Basis.

In Deutschland lässt sich seit einigen Jahren das beobachten, was Politikwissenschaftler als asymmetrische Gewalt bezeichnen: Gewaltakte, die – abhängig von politischer Couleur und ideologischem Hintergrund – unterschiedlich bewertet, verfolgt oder öffentlich eingeordnet werden. Insbesondere ist hier die Förderung und Finanzierung der Antifa durch staatliche Stellen zu erwähnen, welche dann Gewaltakte gegen Andersdenkende durchführen – Sachbeschädigung, Körperverletzung, Drohungen. Genau dieses Muster lässt sich mit Ernst Fraenkels Theorie des „Doppelstaats“ beschreiben: einem Normenstaat, der neutral agiert, und einem Maßnahmenstaat, der politisch selektiv handelt. Die Folgen eines solchen Systems sind nicht theoretisch, sondern historisch gut belegt.

1. Das Gewaltmonopol wird selektiv – und damit unglaubwürdig

Wenn ein Staat Gruppen faktisch privilegiert, deren Gewalt als „politisch erklärbar“ oder „strukturell begreifbar“ eingestuft wird, entsteht ein gefährliches Paradox: Der Staat relativiert Gewalt – und legitimiert sie dadurch indirekt.

Historisch findet man ähnliche Muster:

  • In der Weimarer Republik duldeten lokale Behörden teils extremistische Gewalt, solange sie gegen politische Gegner gerichtet war.
  • In Italien der 1970er Jahre wurden radikale Gruppen („Anni di Piombo“) teils verdeckt unterstützt oder instrumentalisiert, während andere brutal bekämpft wurden.
  • In Nordirland führte die selektive Strafverfolgung durch britische Behörden zu einem jahrzehntelangen Zusammenbruch der Legitimität des Staates in Teilen der Bevölkerung.

In allen Fällen zeigte sich: Nicht die Gewalt zerstört die Demokratie zuerst, sondern deren selektive Bewertung.

2. Die gesellschaftliche Mitte zerfällt

Eine asymmetrische Strafverfolgung schafft das Gefühl einer Parteinahme des Staates. Bürger ziehen sich zurück, radikalisieren sich oder beginnen, in Kategorien von „wir gegen sie“ zu denken. Damit entsteht ein gefährlicher tribalistischer Zustand, bei dem staatliche Institutionen nicht mehr als neutrale Instanzen des Allgemeinwohls gesehen werden.

Historisches Echo:

  • In Weimar führte das permanente Wegsehen bei paramilitärischer Gewalt zur Bildung privater Schutzverbände.
  • In Lateinamerika (Argentinien, Chile, Uruguay der 70er) führte die ideologisch selektive Staatsgewalt zu massenhafter Abkehr breiter Bevölkerungsschichten von staatlicher Loyalität.

Eine Demokratie kann politische Extreme überstehen – aber nicht den Verlust ihrer Mitte.

3. Institutionen verlieren moralische Autorität

Die Legitimität des Staates hängt nicht primär an Gesetzen, sondern an der Überzeugung, dass diese für alle gleichermaßen gelten. Wenn diese Überzeugung erodiert, gelten Behörden nicht mehr als „neutral“, sondern als „politische Akteure“.

Die Politikwissenschaft beschreibt diesen Zustand als Legitimitätskrise (Habermas) oder als Übergang zum „Entscheidungsstaat“ (Hauriou). Beide Theorien zeigen: Ein Staat, der als parteiisch wahrgenommen wird, verliert seine Integrationskraft.

Die Geschichte kennt dramatische Beispiele:

  • In Spanien vor dem Bürgerkrieg zerfiel das Vertrauen in die staatlichen Sicherheitsorgane entlang ideologischer Linien.
  • In Jugoslawien der 80er/90er trugen asymmetrische Entscheidungen der Bundesinstitutionen wesentlich zur ethnischen Fragmentierung bei.

Die Botschaft ist universell: Wer Gerechtigkeit selektiv anwendet, zerstört ihre Bindekraft.

4. Der Staat erzeugt die Krise, die er bekämpfen will

Asymmetrische Gewalt wirkt wie ein politischer Brandbeschleuniger. Indem der Staat bestimmte Gewalt duldet, fördert er paradoxerweise das, was er vermeintlich bekämpft: Radikalisierung, Gegenmobilisierung und ein Gefühl der Ohnmacht bei den Betroffenen. Der Soziologe Robert K. Merton beschrieb dieses Phänomen als „self-fulfilling prophecy“: Maßnahmen, die eine Gefahr eindämmen sollen, erschaffen sie, wenn sie schlecht angewandt werden.

5. Der stille Legitimationsverlust – so zerfallen Demokratien tatsächlich

Ein Staat bricht selten durch einen spektakulären Konflikt zusammen. Er bricht zusammen, wenn genügend Bürger denselben Satz denken: „Der Staat schützt mich nicht mehr – er schützt jemanden vor mir.“ Dieser Satz wirkt wie ein politisches Gift. Er zerstört das Vertrauen in die Neutralität der Institutionen – die wichtigste Ressource jeder Demokratie.

Historische Beispiele dafür ziehen sich wie ein roter Faden durch das 20. Jahrhundert:

  • Weimar 1930–1933
  • Chile 1970–73
  • Nordirland 1972–1998
  • Ukraine 2004–2014 (Regionalpolarisierung)
  • Libanon 1968–1975

Der Mechanismus ist überall derselbe: Asymmetrische Staatlichkeit → Vertrauensverlust → Fragmentierung → Eskalation.

6. Aktuelle Manifestationen in Deutschland 2025: Von der Debatte zur Eskalation

Im Jahr 2025 spitzt sich die Diskussion um asymmetrische Gewalt in Deutschland zu einem Höhepunkt zu. Die Zahl politisch motivierter Straftaten stieg 2024 um über 40 Prozent auf 84.172 Delikte, mit einem Schwerpunkt auf rechtsextremen und antisemitischen Vorfällen – ein Anstieg um 96 Prozent bei letzteren. Gleichzeitig halten Vorwürfe an, dass staatliche Mittel über NGOs und Stiftungen indirekt linksextreme Gruppen wie die Antifa finanzieren, während rechte Gewalt härter verfolgt wird. Die AfD fordert ein bundesweites Antifa-Verbot, um den „Linksterrorismus“ zu bekämpfen, was von Kritikern als Versuch gesehen wird, die Debatte zu polarisieren. Die Union hat zudem eine Kleine Anfrage mit 551 Fragen zur NGO-Finanzierung gestellt, die heftige Kontroversen ausgelöst hat und Fragen nach Transparenz aufwirft.

Diese Asymmetrie wird in der Öffentlichkeit als Teil einer breiteren Legitimitätskrise wahrgenommen: Umfragen zeigen, dass 30 Prozent der Deutschen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus als größte Bedrohung für die Demokratie sehen, während 20 Prozent dysfunktionales Handeln von Institutionen kritisieren. Dennoch bleibt Optimismus: 52 Prozent blicken trotz Krisen zuversichtlich in die Zukunft der Demokratie. Historisch erinnert dies an die Weimarer Dynamik, wo selektive Toleranz gegenüber Extremen die Mitte weiter aushöhlte. In Deutschland 2025 droht eine ähnliche Spirale: Digitale Gewalt und algorithmische Polarisierung verstärken das tribalistische Denken, während der Staat als parteiisch wahrgenommen wird.

Die Herausforderung liegt nun in der Wiederherstellung der Neutralität: Nur eine konsequente, ideologieübergreifende Strafverfolgung kann den Vertrag zwischen Staat und Bürger erneuern. Andernfalls riskiert Deutschland, wie in den historischen Beispielen, in eine Eskalation abzugleiten, die nicht nur die Mitte zerfrisst, sondern die gesamte demokratische Architektur bedroht.

Fußnoten & Literatur

  1. Ernst Fraenkel: Der Doppelstaat. Recht und Justiz im „Dritten Reich“, 1941/1974.
  2. Detlev Peukert: Die Weimarer Republik, Suhrkamp 1987.
  3. Miguel Gotor: A History of Italian Terrorism, Einaudi 2015.
  4. Brendan O’Leary, John McGarry: The Politics of Antagonism: Understanding Northern Ireland, Athlone 1993.
  5. Paul Lewis: Authoritarian Regimes in Latin America, Rowman & Littlefield 2006.
  6. Stanley Payne: The Spanish Civil War, the Soviet Union, and Communism, Yale 2004.
  7. Sabrina P. Ramet: Balkan Babel, Routledge 2019.
  8. Robert K. Merton: Social Theory and Social Structure, 1949.
  9. Bundesministerium des Innern (BMI): Presse: Neuer Höchststand politisch motivierter Kriminalität, 20. Mai 2025.
  10. Human Rights Watch: World Report 2025: Deutschland, 2025.
  11. Körber-Stiftung: Demokratie in der Krise 2025 – Umfrage, 2025.
  12. NIUS: Der Antifa-Komplex: Steuergelder fließen in linksextreme Projekte, 19. September 2025.
  13. Cicero: Jeder, der links kritisiert, ist Faschist – Die Asymmetrie des linken Weltbildes, 26. September 2025.
  14. Verfassungsschutz: Die „Antifa“: Antifaschistischer Kampf im Linksextremismus, 2025.
  15. Statista: Größte Gefahren für die Demokratie in Deutschland 2025, 2025.

christophvongamm

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Dr. Christoph von Gamm ist ein Unternehmer, Investor und Business Angel, der sich an der Schnittstelle von Wirtschaft, Kultur und Technologie engagiert. Er ist CEO und Managing Partner von Cybertrue Capital Partners, einer Firma, die sich mit Investitionen und Deals beschäftigt. Zudem ist er CEO von vonGammCom Global, wo er Beratungs- und Executive-Search-Dienstleistungen im Bereich IT-Outsourcing, große Verträge, Vertriebsführung und umfassende Transformationen anbietet. Seine berufliche Laufbahn umfasst über 20 Jahre globale und pan-europäische Erfahrung, darunter Führungspositionen bei Capgemini Suisse S.A. (2008–2012) und IBM Corporation (1995–2008). Er hat sich als strategisch denkender Führungskraft mit Erfolg bei der Performanceverbesserung großer Organisationen, der Gründung neuer Funktionen und der Pionierarbeit bei globalen Outsourcing-Initiativen etabliert. Sein Schwerpunkt liegt auf der Wertsteigerung durch digitale Transformation und der Nutzung dieser Veränderungen für seine Kunden. Er verfügt über akademische Qualifikationen, darunter einen Doktortitel (Dr. phil.) in interkultureller Wirtschaftswissenschaft von der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), einen Diplom-Ingenieur (Dipl.-Ing.) in Elektrotechnik und Informationstechnik von der TU München sowie ein MBA von der Open University Business School, einen Master of Sales Management von der Portsmouth University, sowie Absolvent des Client Executive Programs der INSEAD Fontainebleau.
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