Das „Girlie“ und die Generäle: Wie eine bahnbrechende Masterarbeit die NATO-Doktrin entzauberte
Ein Essay über Daten, Mythen und das Ende der digitalen Angst.
Dr. Christoph von Gamm, 25. November 2025
In der Welt der internationalen Sicherheitspolitik regieren normalerweise graue Schläfen, schwere Schulterklappen und noch schwerere Aktenkoffer. Es ist eine Welt, die von Doktrinen lebt, von „Grand Strategies“ und von jahrzehntelang gepflegten Feindbildern. Doch im Jahr 2023 geschah etwas, das in dieser hermetischen Blase selten vorkommt: Eine junge Studentin, Jennifer Fetscher, trat mit ihrer absolut genialen Masterarbeit „Warfare in the Digital Age“ vor das Publikum und zertrümmerte mit der Präzision eines Mathematikers und der Unbekümmertheit einer Außenseiterin das vorherrschende Narrativ der westlichen Militärallianz.
Sie zeigte, dass der „böse Cyber-Russe“ ein Mythos ist und dass die wahre Innovation dort stattfindet, wo niemand sie erwartet hatte: in der Ukraine. Es ist die Geschichte, wie „ein einzelnes Girlie“ – um im Duktus der Unterschätzung zu bleiben – durch harte, saubere Datenarbeit die halbe NATO-Doktrin zerlegt hat.
Der Mythos vom allmächtigen Hybriden
Um die Wucht von Fetschers Arbeit zu verstehen, muss man sich an die Stimmung vor dem 24. Februar 2022 erinnern. In den Strategiepapieren der NATO, in den Think-Tanks von Washington bis Berlin, da geisterte ein Gespenst umher: die sogenannte „Gerasimov-Doktrin“. Das westliche Narrativ besagte, Russland habe die perfekte Verschmelzung von Krieg und Frieden, von analog und digital geschaffen. Man erwartete ein „Cyber Pearl Harbor“: Bevor der erste russische Panzer rollt, würden im Westen die Lichter ausgehen, die Banken kollabieren und die Kommunikation verstummen. Russland, so der Glaube, sei der unangefochtene Großmeister des hybriden Schachspiels.
Die Experten waren sich sicher. Die Geheimdienste warnten. Die Doktrin stand. Und dann kam Jennifer Fetscher und tat das, was viele hochbezahlte Analysten versäumt hatten: Sie schaute nicht auf das, was die Russen sagten, dass sie tun würden, sondern sie maß nach, was sie tatsächlich taten.
Die Autopsie einer Supermacht: Daten statt Dienstgrad
Fetschers Methode war so simpel wie genial, aber in der Durchführung wirklich sehr arbeitsintensiv. Sie verließ sich nicht auf Anekdoten oder Einzelberichte. Stattdessen baute sie Datensätze. Sie korrelierte über ein Jahr lang täglich Daten von Cyber-Angriffen (insbesondere DDoS) mit physischen Kampfhandlungen (ACLED-Daten). Sie nutzte statistische Methoden wie die Granger-Kausalität, um eine simple Frage zu beantworten: Was passiert zuerst – der Hack oder der Schuss? Und: Hängt das miteinander zusammen oder passiert das eher rein zufällig?
Die Ergebnisse waren eine „Realitäts-Klatsche“ für das westliche Establishment:
- Russland ist ein chaotischer Riese: Die Daten zeigten keine brillante Orchestrierung. Im Gegenteil: Russische Cyber-Angriffe fanden oft nach physischen Gefechten statt. Das ist militärisch ineffizient – es ist reine Vergeltung. Es offenbarte, dass die russische Militärmaschinerie in Silos gefangen ist. Die Hacker des GRU reden nicht mit den Artillerie-Kommandeuren vor Bachmut. Die Angst vor Leaks und die starre Hierarchie einer Diktatur verhindern genau jene „hybride Perfektion“, die der Westen so fürchtete.
- Die Ukraine als Innovator: Das eigentliche Wunder fand auf der anderen Seite statt. Fetscher wies nach, dass ukrainische Cyber-Operationen signifikant oft vor ihren physischen Offensiven stattfanden. Die Ukraine nutzte DDoS und Cyber-Störungen strategisch als „Vorbereitungsfeuer“, um russische Logistik und Kommunikation zu blenden, bevor die Infanterie angriff. Das ist moderne „Combined Arms Warfare“ – das Gefecht der verbundenen Waffen, perfekt ins digitale Zeitalter übersetzt.
Warum die “NATO-Hengste” es nicht merkten
Warum musste eine Masterstudentin kommen, um das zu beweisen? Warum sahen die Generäle und Geheimdienstler das nicht? Die Antwort ist schmerzhaft: Confirmation Bias.
Der militärisch-industrielle Komplex des Westens hatte sich in sein eigenes Gruselmärchen verliebt. Ein übermächtiger russischer Cyber-Gegner rechtfertigt hohe Budgets und lenkt von eigenen Schwächen ab. Man sah auf die russischen Fähigkeiten (die unbestritten hoch sind), aber ignorierte die organisatorische Unfähigkeit. Man unterschätzte die Ukraine, weil sie nicht in das Raster der Großmächte passte. Fetscher hatte keinen Ruf zu verlieren und keine Budgets zu verteidigen – sie hatte nur ihre Daten. Und Daten lügen nicht.
Was das für uns alle bedeutet: Lektionen für die Schiene und darüber hinaus
Die Auszeichnung mit dem Sonderpreis des Ministerpräsidenten war mehr als verdient, denn die Implikationen dieser Arbeit für unsere Sicherheit – speziell für kritische Infrastrukturen (KRITIS) wie die Deutsche Bahn – sind massiv.
- Cyber ist der Kanarienvogel im Kohleschacht
Wenn wir das ukrainische Modell als den neuen „Goldstandard“ der Kriegsführung begreifen, dann ändert sich unsere Warnstufe. Ein DDoS-Angriff auf die Stellwerke der Bahn oder die Logistiksysteme eines Hafens ist nicht mehr nur ein „IT-Ticket“, das der Admin am Montagmorgen bearbeitet.
Es ist ein militärischer Indikator. Ein massiver Anstieg digitaler Störungen ist heute die Vorstufe zu physischer Sabotage oder einem Angriff. Wer auf die Bildschirme im Security Operations Center (SOC) starrt, sieht heute vielleicht den Truppenaufmarsch von morgen.
- Wir müssen Silos einreißen
Die Russen scheiterten an ihren internen Mauern. Deutschland liebt seine Mauern. Hier die IT-Sicherheit (BSI), dort die Polizei, da der Werkschutz. Fetschers Arbeit schreit uns förmlich an: Legt die Lagebilder zusammen! Wenn es digital flackert, muss physisch der Wachschutz hochgefahren werden. Wir brauchen eine Fusion von Bits und Beton in der Sicherheitsarchitektur.
- Keine Angst vor dem Cyber-Monster
Die vielleicht wichtigste, fast philosophische Lektion: Die Arbeit nimmt uns die lähmende Angst. Cyber-Waffen sind keine magischen Todesstrahlen. Sie sind Werkzeuge. Sie entscheiden keine Kriege allein, sie unterstützen sie nur. Das bedeutet für uns: Wir dürfen uns nicht von der Angst vor dem „Blackout per Mausklick“ erpressen lassen. Resilienz entsteht durch analoge Rückfallebenen und kühle Köpfe, nicht durch Panikmache.
Fazit
Jennifer Fetschers Arbeit ist ein Triumph der Wissenschaft über die Vermutung. Sie hat gezeigt, dass in der modernen Kriegsführung nicht derjenige gewinnt, der die teuersten Hacker hat (Russland), sondern derjenige, der seine Hacker am besten mit dem Rest der Armee koordiniert (Ukraine).
Dass es eines „Girlies“ mit Excel-Tabellen und Statistik-Software bedurfte, um diese Lektion der NATO ins Stammbuch zu schreiben, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Es ist eine Mahnung an alle Experten, öfter mal die Doktrin beiseitezulegen und einfach auf die Daten zu schauen. Denn während die Experten noch über den großen Cyber-Krieg philosophierten, hat er längst stattgefunden – nur ganz anders, als sie dachten.
Jennifer Fetscher hat am 24. November 2025 im Max-Josephs-Saal der Residenz München einen Sonderpreis der Bayerischen Staatsregierung für ihre Masterarbeit überreicht bekommen.
